So weit Harris’ traurige Geschichte. Jene, die sie nach ihrem Erscheinen im Rahmen der Memoirs of the Celebrated Miss Fanny Murray gelesen haben, dürften dem aufrichtig-ernsten Tonfall des Erzählers sauber auf den Leim gegangen sein. Es war eine Geschichte, die gut zur seiner angenommenen Identität passte, seiner Legende Leben und Substanz gab. Da Jack Harris es freilich generell vorzog, ein unauffälliges Leben zu führen, er das helle Licht der Öffentlichkeit scheute und sich lieber im fahlgelben Kerzenschein der Schankhäuser aufhielt, waren diese wenigen Schnipsel alles, was die meisten seiner Kunden je über ihn erfahren haben. Nur einige wenige kannten die Wahrheit. 1779, zwanzig Jahre nach Drucklegung von Jack Harris’ Lebensbeichte, entschloss sich ein altes und gereiftes Mitglied des libertinen Hellfire-Clubs die Nebel der Ungewissheit ein für alle Mal zu zerstreuen. In Nocturnal Revels , seiner Chronik der Londoner Dirnenhalbwelt, geht er mit der Legende ins Gericht: »Ein Mann namens Harris (wie er genannt wird), ein Kuppler, existiert nicht, und es hat ihn vermutlich überhaupt nie gegeben.« Er hatte natürlich recht. Harris hieß eigentlich John Harrison, und seine Lebensgeschichte unterscheidet sich beträchtlich von jener, die er um seinen Decknamen herum erfand.
Anders als Harris verbrachte Harrison eine ausgesprochen unspektakuläre Jugend. Geboren wurde er als Sohn von George Harrison, Inhaber in spe der Bedford Head Tavern in der Maiden Lane, einer Straße, die die Randbezirke des Covent-Garden-Areals gerade noch streifte. Auch wenn sich John Harrison schwerlich brüsten konnte, aus einer Familie von Gutsbesitzern zu stammen, gibt es doch einige wenige entfernte Parallelen zwischen den beiden Lebensgeschichten. So gehörte etwa auch die Familie Harrison, wie die von Harris, zur Zeit von Johns Geburt offenbar noch nicht zur Kirchengemeinde von St. Paul’s, Covent Garden. Als das Bedford Head (eines von mehreren Bierhäusern dieses Namens im Umkreis) 1740 seine Türen öffnete und Harrison senior dessen Eigentümer wurde, muss John bereits ein kleines Kind gewesen sein. Die Schenke mit ihrer frisch geschnitzten hölzernen Innenausstattung war damals ein nagelneues Lokal und noch nicht durch beißenden Kohlenrauch, den säuerlichen Gestank von Alkohol und die Ausdünstungen menschlicher Körper verunreinigt. Für einen Wirt war kaum ein Ort so gut zur Eröffnung eines Gasthauses geeignet wie Covent Garden. Hier konnte er das frei zirkulierende Reservoir sorglos verschleuderter Lohnzahlungen und geerbten Vermögens anzapfen und für sich selbst ein sauber erworbenes Einkommen erwirtschaften. Da Wirtshäuser im 18. Jahrhundert in der Regel als Familienbetriebe geführt wurden, ist es gut möglich, dass die Harrisons bereits seit Generationen im Zapfgewerbe tätig waren und auch schon zuvor ihr Geschäft irgendwo im näheren oder weiteren Umkreis des Platzes betrieben hatten. Doch wo immer sie auch lagen, die Londoner Gasthäuser waren zumeist sicher keine ideale Kinderstube, um rechtliebende junge Menschen mit einem ausgeprägten Gewissen heranzuziehen. In Schmutz und Schmuddel der Schankstube wird der junge John Harrison schon durch eigene Beobachtung viel über die gewalttätige und wollüstige Welt gelernt haben, in die er da hineingeboren war.
Als Kind eines Kneipenbesitzers musste er sicher auch früh anfangen, im Betrieb mitzuhelfen. Seine erste klare Funktion im Bedford Head wird die eines Bierjungen oder einer allgemeinen Aushilfe gewesen sein – jemand, der den Gästen ihre Getränke bringt und leere Krüge und Geschirr wegträgt. Da Lesen, Schreiben und Rechnen ebenfalls als zum Betreiben eines Gasthauses erforderliche Fähigkeiten betrachtet wurden, erhielt ein Wirtssohn auch eine gewisse Schulbildung, höchstwahrscheinlich durch eine nahe gelegene Armenschule. Sein wirklich nützliches Wissen eignete er sich jedoch vorwiegend an, indem er seinen Vater oder irgendein anderes älteres männliches Familienmitglied bei der Erledigung der unerlässlichen Aufgaben ihres Gewerbes begleitete. Wenn er nicht am Zapfhahn aushalf oder seine Einnahmen zählte, wird George Harrison seinen Betrieb aus dem Hintergrund überwacht haben. Er beaufsichtigte die Arbeit der Kellner, die sich, mit Bier beladen, von Tisch zu Tisch plagten, und verdächtige Subjekte behielt er sorgsam in seinem prüfend zusammengekniffenen Auge. Sobald er das entsprechende Alter erreicht hatte, konnte John seinem Vater in diesen Aufgaben assistieren, um schließlich als Vollmitglied in die Reihen des treusorgenden männlichen Bedford-Head-Bedienpersonals aufgenommen zu werden. Als einfacher Tischkellner wird der junge Harrison gegenüber der Kundschaft seines Vaters die Rolle des beflissenen Dieners eingenommen haben. Wenn er sich alle Mühe gab, ihr Verlangen nach Speis und Trank zu befriedigen, konnte er auch eine Belohnung in Form von Trinkgeldern erwarten und sich ein paar Pennys verdienen, indem er den feinen Herren ehrerbietig Teller voll Fleisch und mit Portwein gefüllte Gläser auftrug. Doch wird er bald gelernt haben, dass er mit der Befriedigung ihrer weniger legalen Wünsche viel erklecklichere Summen einheimsen konnte.
Dass die Bedford Head Tavern ein Familienbetrieb war, bedeutet nicht, dass sie auch ein ehrbares Haus war. Nichts weist darauf hin, dass sie sich eines besseren Leumunds erfreute als die Etablissements nebenan; all jene berüchtigten Kaschemmen, die die Maiden Lane verschandelten. Nur ein paar Türen vom Bedford Head die Straße hinunter schwärte eine stinkende Pestbeule von einem Schankhaus: Bob Derrys Cider Cellar. Bob Derry, seine Frau und Tochter nebst Schwiegersohn hatten ihre liebe Not, den in ihre widerliche Lasterhöhle ein und aus strömenden dichten Verkehr der vom Trunk getriebenen Zecher zu regulieren. Räumlichkeiten und Ausstattung von Derrys »Apfelweinkeller« waren, »wie der Name bereits nahelegt«, sehr »roh und einfach«, vermerkte John Timbs, ein Chronist der Gastronomiegeschichte. Derrys Haus war rund um die Uhr geöffnet und gewährte dem Bodensatz der Nachtschwärmer Asyl: all jenen, die bereits zu betrunken waren, um noch gehen oder richtig sprechen zu können. Von Derry geflissentlich ignoriert, machten hier Taschendiebe und syphilitische Straßendirnen ein Mordsgeschäft. Wie Samuel Derrick 1761 schrieb, war das Haus dafür bekannt, dass es dort immer wieder das eine oder andere Problemchen mit tätlichen Auseinandersetzungen gab – brutale Spektakel, wo Männer ihre Rivalen verprügelten oder die Schönen der Nacht sich gegenseitig die Gesichter zerkratzten. Die Kundschaft von Derrys Cider Cellar war nicht gerade dafür bekannt, bei einem guten Kampf dazwischenzugehen; sie gehörte eher zu jenem Schlag, der über den Ausgang Wetten abschließt. Einmal ging die Sache mit dem Doppelmord an zwei Trinkern aus, die nach einer erbitterten Auseinandersetzung grausam erstochen wurden.
Zwar stellen die Annalen von Covent Garden das Bedford Head der berüchtigten Lasterhöhle nebenan an keiner Stelle ebenbürtig an die Seite, dennoch wird man dieses Haus kaum als einen Hort der Gesetzmäßigkeit betrachtet haben. Die meisten der Etablissements im Umkreis dürften auf die eine oder andere Weise in kriminelle Machenschaften verwickelt gewesen sein, ob sie nun Huren erlaubten, offen Freier anzuwerben (eine allgemein akzeptierte Praxis), Hehlerei trieben oder stadtbekannte Kriminelle vor den Wachen versteckten. Häufig entfalteten die Eigentümer oder deren Personal auch noch weit schlimmere kriminelle Aktivitäten, und Kellerräume oder Obergeschosse wurden zum Schauplatz von Missetaten wie Diebstahl, Erpressung, betrügerische Münzbeschneidung, Falschmünzerei, von Misshandlung und Vergewaltigungen. In einem Milieu, wo sich das Anständige und das Unerlaubte zu einem unauflöslichen Gewebe verflochten hatten, muss Harrison bereits in die Welt der Gesetzesbrecher eingeführt worden sein, ehe er überhaupt in der Lage war, zwischen beiden Seiten zu unterscheiden. Da Kellnern und Kuppeln praktisch nicht voneinander zu trennen waren, ist es auch wenig wahrscheinlich, dass George Harrison seinen Sohn davon abzuhalten suchte, sein Geld mit dem »Vermitteln von Bekanntschaften« zu verdienen. Ähnlich wie im Fall seines Alter Egos dürfte vielmehr neben den äußeren Umständen auch die ermunternde väterliche Zusprache John Harrison zum Zuhälter gemacht haben.
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