Aus dem Südsudan sei er geflüchtet, als zwischen dem Norden und dem Süden das Landes ein Krieg ausbrach, erzählte mir Dr. Schumann. In Ghana sei er sofort vom Gesundheitsministerium angestellt worden. Zuletzt war er Distriktsarzt in Kete Krachi in der Volta-Region im Osten des Landes.
Schumann bestätigte mir, dass letztlich immer einer an der jeweiligen deutschen Botschaft gewusst haben musste, wo er sich gerade aufhielt. Im Generalkonsulat im japanischen Osaka-Kobe hat er einen Pass beantragt und erhalten, im Sudan und später in Ghana musste er diesen verlängern lassen. Wenigstens einem Botschaftsmitarbeiter war immer klar, dass sich hier ein in Deutschland gesuchter Massenmörder versteckte.
Und ich saß nun neben diesem Mann, der mir ganz offen sagte: „Ja, es stimmt, ich war am Euthanasieprogramm auf dem Sonnenstein im sächsischen Pirna und im württembergischen Grafeneck beteiligt.” Er hatte zuvor vor dem Gericht in Accra, das über seine Auslieferung zu entscheiden hatte, zugegeben, während des Zweiten Weltkriegs die Tötung von 80.000 bis 120.000 geisteskranken Menschen überwacht zu haben. Das stand auch in der Agenturmeldung vom 4. November 1966.
„Was wollen Sie eigentlich über mich schreiben?”, fragte Schumann. „Meine Eindrücke, die ich beim Gespräch mit Ihnen gewinne”, antwortete ich.
„Was Sie da in diesen Konzentrationslagern gemacht haben, waren ja keine feine Sachen.”
„Nein, das waren keine feinen Sachen. Das mit der Euthanasieanklage, das ist richtig. Ich war der verantwortliche Mann in Grafeneck. Röntgen-Sterilisierungen habe ich auch gemacht, in Auschwitz ... Das war schlimm, was wir gemacht haben.”
Was dort durch Schumann und seine Mitarbeiter geschah, war von einer heute unvorstellbaren Brutalität. Es war gut, dass ich damals relativ wenig von dem wusste, was später bei dem Prozess gegen den Arzt herauskam. Dieser charmante Herr Dr. Schumann hatte erst Debile umbringen lassen, sonderte später arbeitsunfähige KZ-Insassen für die „Gasdusche” aus und hat dann Menschen mit Röntgenstrahlen sterilisiert. SS-Chef Heinrich Himmler habe eine billige Methode für Massenkastrationen rassisch minderwertiger Häftlinge gesucht und diese Versuchsreihen angeordnet, erzählte er mir im Flugzeug. Bei Männern seien die Hoden bestrahlt worden, bei Frauen die Eierstöcke. Wegen der hohen Röntgendosis habe das zu schrecklichen Verbrennungen und in der Regel zum Tod dieser Versuchspersonen geführt.
Es war schier unglaublich, was dieser Mann da trocken erzählte. Und wenn ich ihn ansah, saß da ein sanfter, außerordentlich sympathisch wirkender Opa, der Urwalddoktor, der 20 Jahre zuvor in Luftwaffen-Uniform als KZ-Arzt Tausende Menschen qualvoll verrecken ließ. Darunter auch einige Hundert jüdische Mädchen aus Griechenland.
Er muss sich besonders geschickt angestellt haben und hat das wie Josef Mengele, der Lagerarzt von Auschwitz, als Chance für seine wissenschaftliche Karriere gesehen. Da war keinerlei Gefühl der Menschlichkeit mehr, wenn er 14- bis 18-jährige jüdische Mädchen sterilisierte.
„Wissen Sie, ich habe diese Verbrennungen nie gesehen. Es hat Kontrolloperationen gegeben, an diesen habe ich aber nie teilgenommen.”
„Was geschah denn bei diesen Kontrolloperationen?” – „Nun, die Keimdrüsen mussten herausgeschnitten werden, damit man untersuchen konnte, ob die Röntgenbestrahlung erfolgreich gewesen war. Also, ob die Keimdrüsen durch die Bestrahlung wirklich unfruchtbar geworden waren. Das war in Block 10 in Auschwitz und geschah natürlich ohne Narkose. Dort liefen diese Versuchsreihen mit den griechischen Mädchen und mit Zigeunerkindern. Die armen Menschen.”
Schumann hat das streng wissenschaftlich gesehen. Er fühlte sich als Arzt im Dienst der Wissenschaft. Und für den überzeugten Nationalsozialisten waren Juden und Zigeuner keine Menschen. Es gab durchaus die Anordnungen aus Berlin, aber er hat sie gern und mit Eifer umgesetzt. Seine Erklärung war ganz einfach: Er konnte sich der Sache nicht entziehen und es steckte eine aus seiner Sicht vernünftige Idee dahinter. Sicher, es seien Menschen umgekommen, aber gleichzeitig starben auch Zehntausende an der Front.
Ich gab mir große Mühe, nicht nach dem Motto „Das ist ja schrecklich!“ über ihn herzufallen, und ließ ihn erzählen. Ich habe ihn auch nicht pathetisch nach dem hippokratischen Eid gefragt, aber schon, wie es dazu gekommen ist, dass er als Arzt diesen Drecksjob machen musste.
Dr. Schumann erzählte, dass er 1930 in die NSDAP eingetreten und die nationalsozialistische Idee sein Leben gewesen sei. Und selbstverständlich seien alle Direktiven, die aus Berlin vom Führer oder vom Reichsführer der SS gekommen seien, Befehle gewesen, die er zu befolgen hatte. Eigentlich habe er Pilot werden wollen, erzählte Schumann. Aber er habe sich als Luftwaffen-Oberleutnant die Hand gebrochen und dann sei diese erste Aufforderung aus der Reichskanzlei an ihn als besonders fähigen Mediziner gekommen, in Grafeneck die von Hitler angeordnete Aktion „Gnadentod” umzusetzen. Als „unheilbar krank” geltende Deutsche sollten umgebracht werden. Wie später die Staatsanwaltschaft ermittelte, waren unter Verantwortung Dr. Schumanns in Grafeneck seit 1940/41 829 und später in Sonnenstein 13 720 Geisteskranke ermordet worden.
Auch von seiner Familie erzählte er. Von seiner ersten Frau hatte er sich 1943 scheiden lassen. Die zweite war Krankenschwester in Pirna gewesen und wusste also ganz genau, was für Verbrechen da stattgefunden hatten. Sie war Schumann nach Afrika gefolgt, hatte es dort aber nicht ausgehalten. Sie lebt jetzt unter einem anderen Namen in einer deutschen Großstadt.
Schumann fragte mich, ob ich Grüße an sie übermitteln könnte, denn er werde wohl lebenslänglich zu Zuchthaus verurteilt. Ich musste ihm versprechen, die Adresse nicht journalistisch zu verwenden und er gab mir die Anschrift der Frau in Berlin.
Zwei Stunden hat er im Flugzeug erzählt, dann wurde er müde und schlief ein. Die Maschine kam frühmorgens in Frankfurt am Main an. Ich sagte ihm, dass heute in Deutschland Buß- und Bettag sei, damals ein bundesweiter Feiertag. Er sagte daraufhin etwas pathetisch: „Am Bußtag kehre ich nach Deutschland zurück. Das ist ja sehr symbolkräftig. Ich weiß, ich kriege lebenslänglich.”
Auf dem Flugfeld wartete eine Schar von mindestens 50 Fotografen. Ich stieg neben Dr. Schumann die Gangway herunter. Das sah so aus, als wäre ich einer der Kriminalbeamten. Es war auch kein Journalist da, der mich kannte. Ich flog noch am selben Vormittag von Frankfurt nach Berlin, um mit Schumanns Frau zu sprechen. Die lebte mit den beiden Söhnen in einer Schrebergartenkolonie. Ich richtete die Grüße aus und bekam ein paar Informationen über das gemeinsame Leben in Afrika. Sie war schon 1965 nach Deutschland zurückgekehrt.
Anschließend fuhr ich zurück nach Hamburg und habe die Geschichte geschrieben.
Was mich noch heute beschäftigt: Dieser Mann war einer der ganz großen schrecklichen Mörder der Nazis. Aber wenn ich heute Fotos von damals sehe, dann sieht der Herr aus wie ein Nobelpreisträger für Medizin oder Literatur.
Ich halte es für möglich, dass Schumann auf seiner Flucht bewusst nach Afrika ging, um als Urwalddoktor etwas von dem wiedergutzumachen, was er während des Nationalsozialismus Menschen angetan hatte. Er hätte sich ja auch, wie viele andere Kriegsverbrecher, unter einem anderen Namen nach Südamerika absetzen können. Aber er blieb Dr. Horst Schumann und lebte quasi auf Abruf. Jederzeit hätte einem Auslieferungsantrag stattgegeben werden können.
Ohne Zweifel hat er den Menschen im Südsudan und in Ghana sehr geholfen. Urwalddoktoren wurden von den Afrikanern bewundert, weil sie sich nicht vorstellen konnten, dass jemand freiwillig aus gesicherten europäischen Verhältnissen zu ihnen kommt, um zu helfen. Dass er auf die Menschen wie ein Homo sympathico wirken konnte, das ist mir im Gefängnis in Ghana klar geworden, als wir ihn abholten und seine Zellengenossen in Tränen ausbrachen. Vielleicht wäre aus Schumann ohne den Nationalsozialismus ein guter Arzt geworden; so aber wurde er zu einem der schlimmsten Verbrecher – allerdings zu einem, der im Gegensatz zu Josef Mengele in Vergessenheit geraten ist.
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