Wir flüchteten also nach Hamburg. Damals konnte ich schon einiges vorweisen, beispielsweise Berichte von Europameisterschaften. Dies wusste man in der Chefredaktion der „BILD“. „Was wollen Sie denn verdienen?“, fragte mich der Chefredakteur. Als Jungredakteur bekam ich 438 Mark. Dass das Leben in Hamburg teurer werden würde als in Bochum, war mir klar. Auf die Gefahr hin, rauszufliegen, erklärte ich mutig: „Naja, 600, 700 Mark.“ Der Chefredakteur schlug mir 900 Mark vor und erklärte, dass sie mir auch eine Wohnung besorgen würden. Tatsächlich wurden mir dann drei Angebote gemacht und ich zog mit Dorothea in eine Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung in einem Klinkerneubau an der Alster ein.
Die Stimmung in der Redaktion war sehr gut. Wir haben hervorragend zusammengearbeitet, auch mit den Freien, die an den Wochenenden einschwebten. Am Sonntagabend gingen wir nach Redaktionsschluss in die Mettage und holten den Andruck. Mit schwarzen Fingern und der frischen Zeitung zogen wir auf die Reeperbahn an unseren Stammtisch in der „Washingtonbar“, wo Freddy Quinn seine ersten Auftritte hatte.
Es war eine schöne Zeit. Ich berichtete von internationalen Radsportereignissen, auch von den Olympischen Spielen in Rom. Irgendwann wurde mir aber klar, dass ich nicht mein Leben lang Sportredakteur bleiben konnte. Ausschlaggebend waren diese 50 und 60 Jahre alten Sportredakteure, die schon in der Weimarer Republik tätig gewesen waren und 17-jährige Schwimmerinnen interviewten. Das kam mir komisch vor und ich nahm mir vor, spätestens zu meinem 30. Geburtstag neue journalistische Herausforderungen gefunden zu haben.
Auf einer alkoholgeschwängerten Weihnachtsfeier kam der Schlussakkord von ganz allein. Durch einen später nicht mehr nachvollziehbaren Fehlgriff flog plötzlich meine Schreibmaschine als Wurfgeschoss durch den Raum. Ein Erlebnis, das der damalige Verlagsleiter und spätere Vorstandsvorsitzende des Axel-Springer-Verlags, Peter Tamm, nicht vergessen konnte. Ich erstattete die Reparaturkosten und wechselte nach fünf schönen Jahren bei „BILD“ zum „Rheinischen Merkur“ nach Köln. Für die Wochenzeitung hatte ich zuvor schon ab und zu Geschichten geschrieben. Beispielsweise über Urlauber auf den Nordfriesischen Inseln. Ich kam in das Auslandsressort und hatte alle Freiheiten, die man sich als Journalist wünschen konnte. Nur eine Prämisse war einzuhalten: Es durfte nichts kosten. Das war aber kein Problem, denn viele unabhängig gewordene afrikanische Länder luden Journalisten zu Reisen ein. Es gab ständig Freiflüge und ich bin in einem Teil der Welt herumgeflogen und habe Reportagen gemacht. Die Bilder dazu lieferten Illustrierten-Fotografen, die ihre Aufnahmen an Zeitungen verkauften.
Einer dieser Fotografen, Thomas Höpker, machte die „stern“-Redaktion auf mich aufmerksam. Es gebe beim „Rheinischen Merkur“ einen Redakteur, der schreibe auffallend gute Reportagen. Als Beispiel zeigte er einen Bericht über eine Himalaya-Expedition. „Guckt euch den mal an.“ Der Chef des Auslandsressorts, Egon Vacek, zeigte sich angetan und rief mich an: Ob ich Lust hätte, nach Hamburg zu kommen und mir mal den „stern“ anzusehen? Das habe ich dann neun Jahre lang getan.
Vierzig Millionen
für Dr. med. Schumann
Die Meldung, die am 4. November 1966 aus dem Ticker lief, alarmierte die „stern“-Nachrichtenredaktion. Das höchste Berufungsgericht von Ghana hatte einstimmig entschieden, dass der frühere KZ-Arzt Dr. Horst Schumann, Jahrgang 1906, an die Bundesrepublik Deutschland auszuliefern ist. Damit war ein monatelanges Ringen zu Ende gegangen. Denn nicht nur die Westdeutschen waren an dem Fall interessiert, sondern auch die DDR. Bis dahin waren zwei Auslieferungsanträge abgelehnt worden. Schumann galt als Schützling des ghanaischen Präsidenten Kwame Nkrumah. Er war inzwischen auch Staatsbürger Ghanas. Aber der Präsident war Anfang des Jahres gestürzt worden und eine der ersten Aktionen der neuen Regierung war die Verhaftung des Arztes gewesen.
Der Fall Schumann sollte mein erster großer Auftrag für den „stern” werden, bei dem ich im Oktober als Reporter angefangen hatte. Und wie immer in meiner weiteren Laufbahn spielten Kontakte eine wichtige Rolle.
Die tägliche Redaktionskonferenz war der Höhepunkt im Alltag der Illustrierten. Alle, die etwas zu sagen hatten oder glaubten, etwas sagen zu müssen, versammelten sich. Der Leiter der Nachrichtenredaktion trug die wichtigsten Informationen des Tages vor. Die Chefredaktion entschied dann, ob wir etwas unternehmen oder nicht.
An diesem Tag kam der Nachrichtenchef mit dieser Meldung aus Ghana und erläuterte, dass dieser Dr. Schumann einer der großen Verbrecher des Euthanasieprogramms der Nationalsozialisten gewesen sei.
Ich hatte zuvor noch nie etwas von einem KZ-Arzt Dr. Schumann gehört, wusste aber, dass es Konzentrationslager gegeben hatte und dass es dort nicht besonders freundlich zugegangen war. Über das Euthanasieprogramm wusste ich dagegen mehr, denn ich hatte den Krieg in einem katholischen Dorf verbracht, dessen Bischof als einziger in Deutschland öffentlich gegen das Euthanasieprogramm protestiert hatte: Das war Bischof Clemens August Graf von Galen, der „Löwe von Münster”. Aber Einzelheiten kannte ich nicht. Mit Geschichte und Politik hatte ich mich zuvor kaum beschäftigt. Das Hinterfragen der NS-Vergangenheit setzte erst mit der Studentenbewegung 1966/67 ein.
Die Chefredaktion war an diesem Dr. med. Schumann interessiert, aber man wusste nicht so recht, wie die Geschichte anzupacken war. Überdies war lediglich bekannt, dass er ausgeliefert werden sollte, aber nicht, zu welchem Zeitpunkt. Unklar war auch, wie es überhaupt in Ghana aussah. Im Januar war Kwame Nkrumah, einer der großen afrikanischen Staatsführer der ersten Jahre nach der Unabhängigkeit, gestürzt worden. Dieser hatte die Auslieferung Dr. Schumanns, der als Urwalddoktor arbeitete, nicht zugelassen, obwohl die Bundesrepublik als Gegenleistung 40 Millionen DM an zusätzlicher Entwicklungshilfe angeboten hatte. Sein Nachfolger, Kofi Abrefa Busia, dachte offenbar anders über die Sache. Er hatte großes Interesse an diesen zusätzlichen 40 Millionen DM und Dr. Schumann war für ihn ersetzbar.
In der Konferenz in Hamburg wurde das alles diskutiert. Auch dass in Ghana noch immer das britische Justizsystem galt, nach dem es für Journalisten verboten sei, ins Gefängnis zu gehen, um Interviews zu führen.
„Kann man da überhaupt etwas tun?”, fragte Nannen. Da meldete ich mich und sagte: „Ich bin mit dem Oberstaatsanwalt von Ghana bekannt.”
In der Runde wurden es totenstill. Bitte? Der kennt den Oberstaatsanwalt? Ich war damals erst 31 Jahre alt, hatte aber das Glück gehabt, für den „Rheinischen Merkur” außenpolitische Reportagen schreiben zu können. Zwar war das Gehalt niedrig, dafür aber waren die Freiheiten für einen Reporter groß. Die Redaktion saß damals in Köln und alles, was an Einladungen aus den Botschaften in Bonn und Köln eintraf, landete bei mir auf dem Schreibtisch. Mir war es überlassen, ob ich zu einem Empfang gehe oder nicht. Und bei einem dieser Treffen in Bonn hatte ich einen Menschen kennengelernt, der sich als Oberstaatsanwalt von Ghana vorstellte und mit dem ich mich später in Köln auf ein Gespräch traf.
Die Regierung der Bundesrepublik hofierte damals sehr die unabhängig gewordenen afrikanischen Länder. Das hing vor allem damit zusammen, dass man fürchtete, diese könnten die DDR diplomatisch anerkennen. Wenn afrikanische Regierungen Journalisten einluden, um von ihren Aufbauleistungen zu berichten, fand sich immer ein Weg für mich, hinfliegen zu können. So war ich drei- oder viermal an der Elfenbeinküste gewesen. Dort hatte ich mich mit dem Presseattaché angefreundet, einem Franzosen – in dieser Zeit waren noch viele Beamte Angehörige der ehemaligen Kolonialmacht. Zu dem habe ich eines Tages gesagt: „Lass uns mal nach Accra fahren. Ich kenne da den Oberstaatsanwalt.” Und so sind wir von Abidjan in die Hauptstadt von Ghana gefahren, haben den Oberstaatsanwalt besucht und gemeinsam zu Abend gegessen.
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