»Hast du Solveig gut gekannt?«, fragte sie. Sie brachte es nicht über sich, einen Mann, der jünger als sie selber war, zu siezen.
Der Anwalt ließ sich in seinem hochrückigen Drehsessel zurücksinken und verschränkte die Hände in seinem Nacken.
»Wie gesagt, Solveig hat mich 1995 erstmals aufgesucht. Ich möchte nicht behaupten, sie gut gekannt zu haben. Aber ich hatte den Eindruck einer sehr entschiedenen Frau, die genau wusste, was sie wollte. Wenn wir über die juristische Seite der Angelegenheit sprachen.«
»Gibt es einen Grund zu der Annahme, dass sie . . . dass sie geahnt haben kann, was passieren würde?«
Der Anwalt schüttelte den Kopf und wollte antworten, doch Solveigs Vater kam ihm zuvor.
»Unsinn. Natürlich hat sie das nicht gewusst«, erklärte er mit schroffer Stimme.
»Jede junge Frau in ihrer finanziellen Situation hätte doch ein Testament gemacht. Das habe ich ihr ja selber eingeschärft. Was ich aber nicht verstehen kann, ist . . .«
Nun fiel Erling Meinert ihm ins Wort.
»Ich muss Herrn Aastrand Recht geben. Es ist ganz normal und vernünftig, ein Testament zu machen, wenn Vermögen vorhanden ist. Aber es stimmt auch, dass es ein früheres Testament gab, das durch das neue ungültig geworden ist. Warum sie das wollte, weiß ich nicht.«
»Und zu wessen Gunsten war das erste?«, fragte Pernille.
Der Anwalt lockerte seinen Schlips, der ohnehin ziemlich lose gehangen hatte.
»Es war ein klassisches Testament, durch das das Vermögen den nächsten Angehörigen zufällt«, sagte er.
Alles schwieg. Die Stille war so bedrückend, dass Isabel sich unruhig bewegte. Sie sprang auf und schenkte sich Kaffee nach.
»Ich würde gern eine Frage stellen. Eine Frage, die vermutlich nicht viel mit der Erbschaft zu tun hat«, sagte sie und sah zuerst Solveigs Eltern und dann den Anwalt an. »Weiß irgendwer, ob Solveig einen Freund hatte?«
In diesem Moment erhob sich Leo Aastrand, dessen Gesicht von einer Art stummen Frustration gezeichnet war. Als sie dem Beispiel ihres Mannes folgen wollte, geriet Solveigs Mutter ins Schwanken und griff nach seinem Arm. Isabel sah, wie er sie verstohlen abschüttelte, indem er seinen Arm plötzlich schlaff nach unten hängen ließ.
»Natürlich nicht«, sagt er dann wie zu einer Untergebenen, die eine dämliche Frage gestellt hatte. »Das hätten wir ja wohl gewusst.«
Bodil Aastrand nickte. »Natürlich hätten wir das gewusst. Solveig hat ihre Freunde doch immer mit nach Hause gebracht.«
»Freunde ja. Aber Liebhaber? Hat sie je einen Liebhaber mit nach Hause gebracht?« Isabel ließ sich nicht beirren, doch Solveigs Eltern gaben ihr keine Antwort, als sie dem Anwalt zunickten und dann das Lokal verließen.
Danach gingen sie durch die Straßen von Århus. Pernille hatte nur Zeit für ein schnelles Glas. Es war Donnerstag um halb zwei nachmittags, und sie hatte einen Termin mit einem Klienten, der wegen seines Alkoholproblems, das derzeit behandelt wurde, seinen Arbeitsplatz verloren hatte. Mette musste um vier Uhr Malthe in der Krippe abholen. Nur Isabel hatte Zeit genug, sie hatte sich die ganze Woche frei genommen und sich in Pernilles Wohnung bereits häuslich eingerichtet.
»Das ist ja ein Vermögen«, sagte Isabel und wusste nicht, was sie sonst noch sagen sollte. Es war schwer, nicht mitten in aller Trauer begeistert zu sein, aber im tiefsten Herzen schämte sie sich ihrer Freude ein wenig. Vor ihrem inneren Auge sah sie schon einen neuen, blanken Steinwayflügel, der ihr gehören sollte. Sie versuchte die prickelnde Erwartung zu unterdrücken, ihre Finger auf die Tasten zu legen und einen wunderschönen Klang hervorzurufen.
Pernille schob ihr Fahrrad neben den anderen her. Auch sie hatte eine Zeit lang geschwiegen.
»Wisst ihr überhaupt, was das bedeutet?«, fragte sie endlich, als sie im Novembersonnenschein zu dritt durch die Vestergade und weiter zum Lille Torv und zum Store Torv wanderten. Die beiden Plätze sahen aus wie sehr nackte, gepflasterte Vorgärten, fand Isabel. Umweltfreundlich hin oder her, die Stadt hatte ihr früher, als Autos und Fahrräder mitten im Zentrum ein Chaos verursacht hatten, besser gefallen.
Mette wich einer somalischen Familie mit zwei Kinderwagen aus und lief hinter den anderen her.
»Das bedeutet, dass Solveig aus irgendeinem Grund ihre Eltern bestrafen wollte«, sagte sie, als sie die Freundinnen eingeholt hatte. »Oder dass sie uns aus irgendeinem Grund etwas Gutes tun wollte. Oder vielleicht auch beides.«
Wie Pferde, die sich an eine bestimmte Route gewöhnt haben, bogen sie fast automatisch in die Badstuegade ein. Plötzlich blieb Isabel stehen. Es war so lange her, aber es kam ihnen trotzdem wie gestern vor, dass sie in den Cafés des Studentenviertels ein und aus gegangen waren. Im Kindrodt, im Jorden, im Englen. Damals hatte sie genau gewusst, was ein Engelbrunch kostete und wie viel Brot beim Mittagstisch im Café Kindrodt serviert wurde, von den Preisen für Fassbier und Cappuccino ganz zu schweigen.
»Das ändert sich wirklich nie«, sagte sie und wusste, dass sie sich wie eine Auslandsdänin auf Heimaturlaub anhörte. In Wirklichkeit lag ihr letzter Besuch hier wohl nur zwei Jahre zurück. Sie hatte aus vielen verschiedenen Gründen einen Bogen um Århus gemacht.
»Ein wenig schon«, korrigierte Pernille, die noch immer mitten in der Stadt wohnte. »Die Cafés unten am Fluss machen den alten inzwischen ganz schön Konkurrenz. Aber bei den Preisen haben die das ja auch nicht besser verdient«, fügte sie hinzu.
»Lasst uns nicht länger um die Sache herumreden«, sagte Mette. »Wir können doch im Carlton einen Kaffee trinken und über alles sprechen.«
Sie holten sich Tee und Kaffee, setzten sich an den kleinen runden Tisch und musterten einander forschend. Mette brach als Erste das Schweigen.
»Ich glaube, Solveig hätte gewollt, dass wir uns über das Geld freuen. Das ist nicht verboten. Und es ist nicht unmöglich, zu trauern und sich gleichzeitig zu freuen.«
Ihre Worte schienen eine Blockade beseitigt zu haben. Sofort redeten alle drei wild durcheinander los. Bekannten, dass die Erbschaft eine große Hilfe sein werde und versprachen einander, sie in Solveigs Sinn zu verwenden.
»Und was ist mit Solveig? Und was ist mit ihrem Liebhaber, wenn sie denn einen hatte?«
Diese Frage hatte Mette gestellt. Sie fügte hinzu:
»Können wir diese Sache einfach so auf sich beruh en lassen und ansonsten ihr Geld ausgeben und vergessen, warum sie gestorben ist? Können wir das?«
Sie begegnete den Blicken der anderen. Isabel konnte es ihnen ansehen, und sie wusste es auch selber. Das konnten sie nicht. Sie trugen Verantwortung.
»Wir sollten lieber versuchen, ihn zu finden«, sagte sie leise und spürte, wie ein Wirbelwind aus unterschiedlichen Gefühlen sich durch den Schock, den sie in der Anwaltskanzlei bei der Verlesung des Testaments erlitten hatte, zu Wort meldete. Sie hatten diese Erbschaft nicht verdient, fand sie. Sie hatten nicht genug getan, hatten sich nicht gut genug um Solveig gekümmert. Als sie diese Gedanken ausgesprochen hatte, sah sie, dass die anderen ebenso empfanden.
»Ich weiß nicht, warum wir sie uns nie vorgeknöpft und dann versucht haben, etwas für sie zu tun«, gab Pernille zu. »Aber sie schien immer total abzublocken, wenn wir ein seltenes Mal versucht haben, ihren Panzer aus Nachdenklichkeit und Hilfsbereitschaft zu durchdringen. Und außerdem . . . ich glaube irgendwie, es hat ihr geholfen, anderen zu helfen. Ich glaube, das hat sie froh gemacht und ihre anderen Sorgen vergessen lassen.«
Mette fügte hinzu:
»Wir müssen ja zugeben, dass sie das wirklich gut gemacht hat. Sie hat so viel für uns getan. Immer hat sie uns auf irgendeine geheimnisvolle Weise Liebhaber besorgt. Aber sie selber scheint nie einen richtigen gehabt zu haben.«
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