»Ganz ruhig«, murmelte er. »Das ist doch alles egal. Hab keine Angst.«
Das war der erste Kuss. Nur ein Kuss. Aber er war auch Balsam für ihre ausgefransten Nervenenden, und sie hatte sich danach gesehnt.
»Ist die Tür abschließbar?«, flüsterte er ihr ins Ohr.
Sie hakte den Riegel ein, und er zog sie zur Matratze. Für einen Moment spielte sie mit dem Gedanken, ihm zu erzählen, dass sie zwei Matratzen hatte und eine neben die andere legen könnte. Aber sie hatte jetzt Angst vor einer Unterbrechung. Angst davor, die Magie könne verschwinden. Diese zerbrechliche Magie, die immer dann verflog, wenn das Gegenüber die Socken anbehalten wollte.
Doch das passierte nicht. Die Magie war wie eine treue Zuschauerin, als sie einander ungeduldig die Kleider vom Leib rissen.
»Jetzt kann ich dich viel besser kennen lernen«, murmelte er.
Und sie liebten einander, als ob das Wort »später« nicht existiere.
Doch später kam. Als sie immer noch in der gegenseitigen Wärme lagen und sein Gesicht so dicht an ihrem war, wie es noch kein Gesicht geschafft hatte, so lange sie sich erinnern konnte.
»Ich möchte dir noch etwas sagen«, murmelte er.
Wieder setzte ihr Herz aus. Eine bange Ahnung machte sich bemerkbar.
»Was denn?«
Er seufzte.
»Es ist wirklich nicht wichtig. Für mich wenigstens nicht.« Ihre Angst wuchs.
»Was denn?«
Er küsste sie sanft, wie zur Beteuerung.
»Ich bin zweiter Vorsitzender bei der KU.«
Im ersten Moment, als er das gesagt hatte, empfand sie nichts. Aber tief in ihr spürte sie, dass ein Haken zuschnappte.
»Bei der Konservativen Jugend-Union?«, fragte sie dumm. Denn der Name dieser Erzfeindin war ihr schließlich nur zu vertraut.
Das Testament war zwei Jahre alt.
Es war vor Solveigs Umzug nach Skörping in Nordjütland verfasst worden, wo sie ihren Traumposten als Ärztin an einer Privatklinik gefunden hatte.
Einen guten Monat nach der Beerdigung fanden sie sich alle in einer Anwaltskanzlei in der Vestergade ein. Sie saßen in zwei Gruppen zusammen. Solveigs Eltern nebeneinander vor dem Schreibtisch. Die Freundinnen etwas zurückgezogen in weicheren Sesseln um einen Couchtisch. Dort standen Tee und Kaffee, und Mette füllte die Plastikbecher und reichte sie herum.
»Ich kann es nicht verstehen. Ich habe sie in finanziellen Fragen immer beraten, und sie hat kein Wort von einem Testament gesagt«, sagte Leo Aastrand mit einer Mischung aus Kummer und Irritation in der Stimme.
Solveigs Vater hatte immer schon Autorität ausgestrahlt, überlegte Isabel. So, wie er dort saß, groß und schlank in seinem Tweedjackett und mit der rahmenlosen Brille auf der Nase, erinnerte er sie unwillkürlich an einen englischen Landedelmann. Er war einwandfrei daran gewöhnt, dass ihm zugehört wurde, und sie ging davon aus, dass das für seine Arbeitskollegen und für seine Frau galt. Die Freundinnen wussten alle, das er für Solveig eine Art Vorbild gewesen war.
Auf jeden Fall hatte sie häufig von seinen Leistungen auf dem Pferderücken und dem Tennisplatz erzählt, von seinem fachlichen Können ganz zu schweigen.
Er nahm den Becher wortlos entgegen, wie aus der Hand einer bezahlten Serviererin. Ohne seinen gequälten Gesichtsausdruck hätte man ihn für den Anwalt halten können, und nicht den verhuschten Wicht, der sich in seinem Sessel auf der anderen Schreibtischseite zurückgelehnt hatte.
Der Anwalt Erling Meinert sah ungefähr so aus wie das, was die Mädchen früher auf der Grundschule als »Kneifarsch« bezeichnet hätten. Er erinnerte Isabel an den Mozart in Milos Formans Film, mit seinen unbezähmbaren Struwwelhaaren und seinen ruhelosen Bewegungen, doch er hatte auch scharfe Augen, die jedes Detail in seiner Umgebung registrierten.
»Ich kann natürlich versichern, dass das Testament gültig ist. Ihre Tochter hat sich bereits 1995 an mich gewandt, um ihre Situation zu diskutieren«, sagte er und drehte seinen Schreibtischstuhl ein wenig zur Seite, was eher wie eine schlechte Gewohnheit aussah als wie eine bewusste Handlung.
Isabel hatte Solveigs Eltern nie sonderlich gut leiden mögen, obwohl sie nicht behaupten konnte, sie zu kennen. Natürlich hatte es Solveig rein finanziell an nichts gefehlt. Mit materiellen Gütern war sie so richtiggehend voll gestopft worden, und ihre Freundinnen hatten häufiger die guten Weine aus Leo Aastrands Keller genossen, wenn Solveig sie zum Essen eingeladen hatte. Aber die Beziehungen in dieser Familie waren ihr nie als besonders herzlich erschienen, trotz der ganz speziellen Beziehung zwischen Solveig und ihrem Vater.
»Aber Solveig hatte doch schon einen Anwalt, den unserer Familie«, sagte Leo Aastrand und fügte rasch hinzu: »Ja, Verzeihung, ich wollte damit nicht sagen . . . Sie müssen verstehen, sie war ja nicht unvermögend.«
Solveigs Mutter, eine eher unauffällige Frau mit hellen Dauerwellen und bleichgrünem Kostüm beugte sich in ihrem Sessel vorsichtig ein wenig vor.
»Mein Vater hatte einen Fonds für sie eingerichtet, über den sie an ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag verfügen konnte«, flüsterte sie.
Der Anwalt nickte.
»Das ist mir bekannt, Frau Aastrand. Solveig hat mir fast alles erzählt, glaube ich.«
»Aber warum?« Ihr Vater ließ nicht locker. »Warum hat sie nicht mit uns darüber gesprochen?«
Das Geld stammte von der Mutter, das wusste Isabel. Solveigs Mutter hatte von ihrem Vater, einem erfolgreichen Kunststoffhersteller, ein kleines Vermögen geerbt. Ansonsten war es die übliche Geschichte von Arzt und Sprechstundenhilfe gewesen, die so eng zusammenarbeiteten, dass es in ihrer Beziehung plötzlich um ganz andere Dinge gegangen war.
Der Anwalt setzte sich gerade.
»Vielleicht sollten wir mit dem offiziellen Teil der Besprechung anfangen«, regte er an. »Sind alle anwesend?«
Er leierte die Namen herunter, und alle nickten. Dann öffnete er einen Ordner, der vor ihm auf dem Schreibtisch gelegen hatte.
»Die Verstorbene hat mit meiner Hilfe ihr Testament zu Gunsten der heute hier anwesenden Personen aufgestellt.«
Erling Meinert schaute wieder auf und betrachtete die kleine Versammlung. Isabel folgte seinem Blick. Solveigs Eltern saßen angespannt dicht nebeneinander. Leo Aastrand starrte vor sich hin. Mette und Pernille schauten den Anwalt an wie zwei Musterschülerinnen einen Lehrer.
»Ich werde mich kurz fassen. Die Hinterlassenschaft der Verstorbenen ist noch nicht taxiert worden, hat aber, durch das Reihenhaus in Aalborg und diverse Aktien und Obligationen sowie eine Lebensversicherung, einen Wert von an die zweieinhalb Millionen Kronen. Dazu kommen Einrichtungsund andere Gegenstände sowie diverse elektrische Apparate, Computer, Stereoanlage und so weiter.« Meinert sagte dann:
»Solveig Aastrand hat – auf meinen Rat hin – das mögliche Erbe in Prozente eingeteilt. Es verteilt sich wie folgt: Leo und Bodil Aastrand bekommen zusammen fünfundzwanzig Prozent, was vor Abzug der Steuern ungefähr eine Summe von sechshundertdreiunddreißigtausend Kronen ausmacht. Der Rest, nämlich fünfundsiebzig Prozent der Hinterlassenschaft, fällt zu gleichen Teilen an Pernille Gram, Isabel Lund Jepsen und Mette Severinsen.«
Isabel spürte eine Hand, die ihre packte. Pernille stieß einen leichten Klagelaut aus. Mettes Schultern zogen sich zu einem unterdrückten Schluchzen zusammen. Dann fand auch ihre Hand Isabels, und wortlos starrten sie erst den Anwalt und dann einander an.
Solveigs Eltern saßen wie erstarrt in ihren Sesseln.
Erling Meinert schloss den Ordner.
»Wenn es Fragen gibt, dann schießen Sie los«, sagte er geradeheraus, was besser zu ihm passte als die förmliche Anwaltssprache.
Das gab Isabel den Mut, die Mauer des Schweigens zu durchbrechen.
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