»Halt! Lass ihn laufen, Pernille. Pernille! Halt!«
Nächster Halt Kopenhagen Hauptbahnhof. Bitte alle aussteigen, der Zug endet hier.
Isabel fuhr aus dem Schlaf hoch und versuchte ihren Traum abzuschütteln. Doch als sie den Zug schon verlassen hatte und draußen durch die kühle Luft ging, wollte er sie noch immer nicht loslassen.
In Kopenhagen versuchte sie in den Tagen nach der Beerdigung sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Sie hatte jede Menge Termine: Unterrichtsstunden, Konzerte, auf die sie sich vorbereiten musste. Aber sie arbeitete rein mechanisch, und das überraschte sie. Sie hatte damit gerechnet, dass ihre Empfindungen im Zusammenhang mit Solveigs Tod in ihre Musik hineinsickern und sie prägen würden wie ein roter Faden der Melancholie. Aber stattdessen erfüllte sie eine Gleichgültigkeit, mit der sie nicht gerechnet hatte. Und sie stellte fest, dass ihre Gedanken ihr immer wieder einen Streich spielten und sich in der Zeit zurück und zum Traum im Zug hinbewegten.
Wenn sie tagsüber keine Zeit zum Nachdenken fand, dann konnte sie sicher sein, dass die Nacht zu Hilfe genommen werden würde. Der immer wiederkehrende Albtraum machte sie nervös. Der Schlafmangel sorgte dafür, dass sie tagsüber bisweilen in Schweiß ausbrach und danach vor Kälte zitterte, während die Arbeit sich auftürmte. Ganz gegen ihre sonstige Art versuchte sie auszurechnen, wann sie sich einen Urlaub gestatten könnte, und wieder machte sie sich an die gefährlichen Spekulationen über das Älterwerden und stellte die Frage, was aus ihrem Leben werden sollte, was sie sich jetzt wünschte und was sie vermutlich niemals erreichen würde.
Ihre kleine Zweizimmerwohnung in Frederiksberg, in der sie zu ihrem Glück im Keller einen Übungsraum für ihren Flügel hatte mieten können, löste jetzt in ihr Klaustrophobie aus. Ihr fehlte ein Mensch, mit dem sie reden konnte. Natürlich fehlte ihr auch ein Mann; das brauchte sie sich weder von einem Psychologen noch von ihrer Mutter erzählen zu lassen. Aber vor allem fehlte ihr ein Mensch, der sie gut kannte. Ein Mensch, mit dem sie eine Vergangenheit teilte. Doch ihre Freundinnen wohnten in Århus, ihre Großmutter lebte nicht mehr, und ihre Mutter war viel zu sehr beschäftigt mit Henry, ihrem Bridgeklub und der nächsten Campingreise.
Also fing Isabel an zu rauchen. Sie war immer eine Gesellschaftsraucherin gewesen, doch jetzt riefen die Zigaretten mit einer ganz anderen Stimme nach ihr, und sie gab nach, weil ihr die Konsequenzen ziemlich egal waren, solange sie auf diese Weise das Gefühl zu leben zurückgewinnen konnte.
Als zehn Tage später der Brief durch den Türschlitz fiel, war sie ohnehin schon bereit, von allem wegzulaufen, den Laden dichtzumachen und die Flucht ins heimische Århus anzutreten, wie es in diesem schrecklichen Lied hieß, bei dem ihr, trotz seiner ganzen Schrecklichkeit, doch immer wieder die Tränen in die Augen traten.
Fast noch in der Sekunde, in der sie die Lektüre beendete, läutete das Telefon, und Pernilles vertraute Stimme wünschte ihr einen Guten Morgen.
»Hast du auch einen Brief von Solveigs Anwalt bekommen?«
Isabel, die eine Zigarette brauchte, sagte eilig:
»Momentchen. Ich hol mir nur schnell einen Kaffee. Gleich wieder da.«
Sie riss ihre Zigaretten und einen Becher Nescafé an sich, dann setzte sie sich in den Le Corbusier-Korbsessel neben dem Telefon.
»Hier bin ich wieder. Ich hab ihn gerade gelesen. Was bedeutet das?«
»Das wollte ich dich auch fragen. Kommst du zu diesem Termin am 22.?«
»Kann ich zwei Tage bei dir wohnen?«
Isabel hoffte, dass ihre Depression nicht allzu deutlich zu merken war.
»So lange du willst. Stimmt irgendwas nicht?«
»Ich weiß nicht. Ich glaube, ich muss einfach mal weg hier. Hast du was von Mette gehört?«
Pernille und Mette hatten sich zwei Tage zuvor zum Mittagessen getroffen.
»Wie geht es ihr denn?«
Nach einer kurzen Pause sagte Pernille:
»Ich durchschaue einfach nicht, ob Donald das Problem ist oder sie selber. Aber irgendetwas stimmt nicht bei ihr. Ist dir das nicht auch aufgefallen?«
»Ich hatte nur das Gefühl, dass alles so angespannt wirkte«, sagte Isabel. »Aber das kann ja viele Gründe haben. Und das Leben mit Kindern ist sicher auch nicht so leicht.«
Pernille schnaubte ein höhnisches »Ha!«
»Die sind doch immerhin zu zweit«, rief sie dann.
Pernille hatte Thomas allein großgezogen.
»Lass uns hoffen, dass die beiden eine Lösung finden«, sagte Isabel gutmütig. »Was ist mit Thomas, von dem weiß ich gar nicht viel. Geht’s ihm gut? Wie kommt er in der Schule zurecht?«
»Er wird im Dezember fünfzehn.«
»Wirklich? Er war als kleines Kind so niedlich«, sagte Isabel und fand plötzlich, sie höre sich an wie ihre Mutter.
»Er ist noch immer niedlich. Er ist das Beste, was ich habe«, sagte Pernille ernst.
»Hat er eine Freundin?«
Pernille kicherte. »Wenn, dann gibt er das auf jeden Fall nicht zu. Aber er braucht Stunden im Badezimmer, wenn er auf ein Fest geht, also vielleicht will er ja doch auf irgendwen Eindruck machen.«
Isabel zog ausgiebig an ihrer Zigarette. Sie merkte, wie der Rauch ihre Lunge füllte und das wohltuende Gefühl von Nikotin sich in ihrem Körper ausbreitete.
»Ich glaube, Solveig hatte einen Freund«, sagte sie dann.
Sie erzählte Pernille von ihrem Besuch auf dem Friedhof und den schwarzen Rosen auf dem Grab.
»Warum ist er nicht zur Beerdigung gekommen?«, fragte Pernille.
»Ich weiß nicht. Vielleicht war er so neu, dass ihm das peinlich war. Was wissen denn wir? Und wie geht es sonst? Mit der Arbeit und so?«
»Ach, ich weiß nicht«, sagte Pernille. »Im Moment hab ich das alles ein bisschen satt. Behörden, ich kann dir sagen. Es dauert sieben lange und sieben breite Tage, bis überhaupt etwas passiert. Diese vielen Scheißformulare. Ich dreh demnächst noch durch.«
Isabel lachte.
»Das hört sich gar nicht an wie die alte Pernille. Vielleicht solltest du in die Privatwirtschaft überwechseln?«
»Ich habe wirklich meine politische Überzeugung nicht geändert und ich will auch nicht das dicke Geld scheffeln. Aber alles könnte so viel besser organisiert werden, sogar in einem Sozialamt. So meine ich das.«
»Natürlich.«
Isabel drückte ihre Zigarette aus und bekämpfte den Drang nach einer weiteren. Stattdessen trank sie einen Schluck Kaffee und sagte ehrlich:
»Es tut gut, deine Stimme zu hören, Pernille. Du hast mir gefehlt. Und Mette hat mir auch gefehlt. Und Solveig.«
»Ebenso«, erwiderte Permlle mit ernster Stimme. »Schön, dass du kommst. Du kannst Thomas’ Zimmer haben.«
»Ich will ja nicht hoffen, dass du Thomas meinetwegen vor die Tür setzt.«
Pernille lachte.
»Absolut nicht. Aber in der Woche fährt er mit seinem Vater nach Paris, und deshalb brauche ich Gesellschaft, damit du’s weißt.«
»Und du hast noch immer nichts mit Thomas’ Vater am Laufen?«, fragte Isabel, die immer schon gefunden hatte, Pernille und dieser Mann seien füreinander wie geschaffen.
Pernilles Stimme nahm einen kleinen, fast unhörbaren Beiklang an.
»Absolut nicht!«
Isabel lachte.
»Du weißt genau, was Mette jetzt sagen würde, was? ›The lady doeth protest too much, methinks!«‹
»Du mich auch«, erwiderte Pernille, und Isabel wusste genau, wie sie jetzt aussah, mit ihrem kleinen unfreiwilligen Lächeln um die Lippen und einer verärgerten Furche in der Stirn.
PERNILLE
Er war nicht immer da. Absolut nicht. Andererseits war auch sie nicht immer da. Manchmal mussten sie und Solveig ihr Luxusbad auf einen anderen Wochentag verlegen oder es ganz einfach ausfallen lassen.
Aber wenn er da war, dann passierte immer etwas mit ihr. Etwas Unerklärliches. Alles schien plötzlich besser auszusehen. Die Welt wurde ganz einfach schöner, und alle ihre dummen Probleme kamen ihr klein und lösbar vor.
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