Pferde, die frei in der Ebene leben, fressen Gras, saufen Wasser; wenn sie glücklich sind, reiben sie die Hälse und erfreuen sich aneinander; wenn sie sich ärgern, drehen sie sich das Hinterteil zu und treten einander mit den Hufen. Den Pferden genügt es, dies zu wissen. Weiter reicht ihr Wissen nicht.
Doch werden sie an die Deichsel gespannt und wird ihnen ein halbmondförmiger Kopfschmuck angelegt, dann lernen die Pferde, sich gegen das Einspannen zu wehren; sie bäumen sich auf, spucken wild um sich und reißen sich vom Zaumzeug los. Die Pferde so weit zu bringen, dass sie lernen, Unheil zu stiften – das ist der Fehler von Bo Le.
Zur Zeit des [Königs] Hexu blieb das Volk zu Hause und wusste nicht, was zu tun ist, es lief herum und wusste nicht, wohin; es aß, was es zwischen die Zähne bekam und war zufrieden, es füllte sich den Bauch und spazierte umher – dazu war es fähig, und das war genug. Dann erschienen die Weisen, um mit Ritualen und Musik alles unterm Himmel zurechtzubiegen und zurechtzurücken; sie ließen dem Land Menschlichkeit und Rechtschaffenheit angedeihen, um den Herz-Geist von allen unterm Himmel zu beruhigen – und das Volk begann, sich auf die Zehenspitzen zu stellen in seiner Gier nach Wissen, es wetteiferte im Erzielen von Gewinn und konnte damit nicht mehr aufhören. Das ist der Fehler der Weisen.
10
胠篋 (qū qiè)
Kisten aufbrechen
Dieses Kapitel wird bereits von Sima Qian als Teil des Zhuangzi erwähnt. Es widmet sich der Frage, ob es legitim sei, Grenzen zu überschreiten, und gelangt zu einer originellen Antwort: die kleinen Diebe werden bestraft, die großen Räuber als Würdenträger geehrt. Wer als Dieb oder Räuber erfolgreich sein möchte, benötigt Dao, eine Methode und Moral. Die Gier der Oberen nach immer mehr führt dagegen zu gesellschaftlicher Unruhe.
Wo Kisten aufgebrochen, Säcke geplündert und Truhen von Dieben geöffnet werden, dort wappnet man sich, um sich zu schützen, mit Seilen und Schnüren, die festgezurrt werden, verstärkt Riegel und Schloss – gewöhnlich nennt alle Welt das klug. Doch wenn ein richtig großer Dieb kommt, dann lädt er sich die Truhe auf den Rücken, schleppt die Kiste weg, wirft den Sack über die Schulter und rennt davon, wobei er nur bangt, ob die Schnüre und Stricke, Riegel und Schlösser auch ja fest genug halten! Heißt das nicht, dass derjenige, der von allen klug genannt wird, nur für den großen Dieb gehortet hat?
Daher lasst mich versuchen zu erklären, was ich meine: Derjenige, den gewöhnlich alle Welt klug nennt, hat er nicht für den großen Dieb gehortet? Und schützen nicht diejenigen, die weise genannt werden, den großen Dieb? Woher weiß ich, dass es sich so verhält? Im Staat Qi konnten einst die Menschen in benachbarten Orten einander sehen, die Hühner und Hunde konnten einander hören; um Netze zum Fischen auszuwerfen, den Boden mit Pflug und Hacke zu beackern, reichte das Land 2000 Quadratmeilen weit. Alles war vereint innerhalb der vier Grenzen: Ahnentempel, Tempel für den Gott des Ackers und der Feldfrüchte, die Verwaltung der Dörfer und Weiler entsprach in allem den Gesetzen der Weisen!
Doch eines Tages ermordete Tian Chengzi (Vollendeter Feldbauer) den Herrscher von Qi und riss sein Land an sich. War es nur das Land, das er an sich gerissen hat? Zugleich riss er damit die Gesetze an sich, die die Weisen und Gelehrten erlassen hatten. Zwar haftete Tian Chengzi der Ruf eines Diebes und Räubers an, er selbst aber verbrachte sein Leben in Ruhe und Frieden wie [die Könige] Yao und Shun; die kleinen Staaten wagten es nicht, ihn zu verurteilen; die großen Staaten wagten es nicht, ihn anzugreifen; zwölf Generationen herrschte sein Clan über das Land Qi. Bedeutet dies nicht, dass er, indem er den Staat mitsamt den Gesetzen der Weisen und Gelehrten an sich riss, damit sich selbst als Dieb und Räuber geschützt hat?
Lasst mich noch einmal versuchen, es zu erklären: Derjenige, den alle Welt gewöhnlich für klug hält, hortet er nicht für den großen Dieb? Und derjenige, der vollkommen weise genannt wird, schützt er nicht den großen Dieb? Woher weiß ich, dass es sich so verhält? Einst wurde Longfeng (Stoßender Drache) geköpft, Bigan (Unvergleichlicher Kämpfer) wurde das Herz herausgerissen, Changhong (Prächtige Sternfrucht) der Bauch aufgeschlitzt, Zixu (Kleiner Beamter) ließ man verwesen – diese vier waren kluge Männer und konnten dennoch nicht verhindern, dass sie getötet wurden.
Die Kumpane des Räubers Zhi wandten sich an Zhi und fragten: »Haben Räuber auch ein Dao?«
Zhi sprach: »Wie kann ein Plan aufgehen, wenn man kein Dao hat? Zu ahnen, wo im Haus der Schatz versteckt ist, erfordert Weisheit; als Erster hineinzugehen, erfordert Mut; als Letzter hinauszugehen, erfordert Rechtschaffenheit; wissen, was möglich ist und was nicht, erfordert Klugheit; die Beute gleichmäßig zu teilen, erfordert Menschlichkeit. Wer diese fünf Punkte nicht in seine Vorbereitungen einbezieht, kann unterm Himmel kein großer Räuber werden.«
Aus diesem Grund lässt sich beobachten, dass sich gute Menschen, die sich nicht an das Dao des Weisen halten, nicht durchsetzen; dass Zhi, würde er nicht dem Dao der Weisen folgen, nicht erfolgreich wäre in seinem Tun; unterm Himmel gibt es nur wenige gute, aber viele schlechte Menschen; darum stiftet der Weise unterm Himmel auch nur wenig Nutzen, aber richtet unterm Himmel viel Schaden an.
Mit Weisheit ist hier nicht die daoistische Weisheit, vielmehr die konfuzianische Gelehrsamkeit und Klugheit gemeint. Auf die heutige Zeit übertragen, lässt sich darunter der Nutzen der Wissenschaft verstehen: Er scheint auf der Hand zu liegen und dient der Bequemlichkeit der Menschen; bei genauerem Hinsehen aber ist die Existenz der Menschheit durch die Weiterentwicklung der Wissenschaft und Technik ernsthaft bedroht, so dass es besser wäre, auf viele Annehmlichkeiten zu verzichten, dafür aber das Leben auf der Erde zu erhalten. Die Beschreibung des Landes Qi zu Beginn ähnelt der Schilderung in Laozi, Kapitel 80.
Daher heißt es: »Wölbt man die Lippen, werden die Zähne kalt; ist der Wein von Lu dünn, wird Handan belagert; wird ein Weiser geboren, erscheinen die großen Diebe.«
Überwinde die Weisen, lass Diebe und Räuber frei laufen, dann kehrt unterm Himmel alles zu seiner ursprünglichen Ordnung zurück. Flüsse trocknen aus, und Täler leeren sich, Hügel ebnen sich ein, und Abgründe füllen sich. Sterben die Weisen aus, verschwinden die großen Diebe; unterm Himmel herrschen Gleichheit und Friede, und es gibt keinen Grund zu stehlen. Sterben die Weisen nicht aus, verschwinden die großen Diebe nicht. Je mehr Gewicht die Weisen in der Regierung genießen, desto mehr Vorteile ziehen Räuber wie Zhi daraus.
Wenn Scheffel und Säcke zum Messen [von Getreide] verwendet werden, dann werden Scheffel und Säcke auch gestohlen; wenn Waage und Gewichte zum Wiegen verwendet werden, dann werden Waage und Gewichte auch gestohlen; wenn Siegel und Stempel als Vertrauensbeweis verwendet werden, dann werden Siegel und Stempel auch gestohlen; wenn Menschlichkeit und Rechtschaffenheit benutzt werden, um Aufrichtigkeit zu zeigen, dann wird mit Menschlichkeit und Rechtschaffenheit auch gestohlen.
Woher weiß ich, dass es so ist? Wer ein Häkchen stiehlt, wird mit dem Tode bestraft; wer einen ganzen Staat an sich reißt, den betrachten alle als Würdenträger; am Tor zu dessen Palast tummeln sich Menschlichkeit und Rechtschaffenheit, doch hat er nicht Menschlichkeit und Rechtschaffenheit, Weisheit und Klugheit an sich gerissen? Daher ahmen die Leute den großen Räuber nach, erheben sich zu Würdenträgern, beanspruchen Menschlichkeit und Rechtschaffenheit, ziehen aus der Verwendung von Scheffel und Säcken, Waage und Gewichten, Siegel und Stempel Vorteile; erhalten sie nur einen Karren und eine Kappe [für ihren Kopf statt einer Krone], stellt sie das nicht zufrieden; droht man ihnen mit scharfen Waffen, hält sie das nicht zurück. Räuber wie Zhi gewichtige Vorteile genießen zu lassen und nicht zurückzuhalten – darin besteht der Fehler des Weisen.
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