Lass uns also darüber sprechen. Seit den Drei Dynastien gibt es niemanden unterm Himmel, der sich nicht irgendwelcher Dinge zuliebe von seiner Natur entfernt. Der kleine Mann opfert sich auf, um Vorteile zu erlangen; der Gelehrte (und der Krieger) opfert sich auf dem Ruhm zuliebe; der hohe Beamte opfert sich auf für die Familie; der Weise opfert sich auf für die Welt. All diese Leute widmen sich ihrer Sache auf unterschiedliche Weise, erlangen in verschiedenem Ausmaß Ruhm und Ruf, aber dass sie ihre Natur missachten und sich aufopfern, darin sind sie eins.
Zang und Gu hüteten gemeinsam Schafe und verloren einmal all ihre Schafe. Als Zang gefragt wurde, wie es dazu kam, [antwortete er], er habe ein Buch mitgenommen und gelesen; als Gu gefragt wurde, [antwortete er], er habe sich an einem Würfelspiel erfreut. Die beiden hatten sich mit unterschiedlichen Dingen beschäftigt, doch dass ihnen die Schafe abhandenkamen, war ihnen gemeinsam.
Bo Yi starb dem Ruhm zuliebe am Fuße des Shouyang-Berges; Zhi, der Räuber, starb, um Vorteile zu erlangen, auf dem Gipfel des Dongling-Berges. Beide sind aus unterschiedlichen Gründen gestorben, doch gleichermaßen haben sie ihrer Natur geschadet und ihr Leben verkürzt; warum wird dann Bo Yi der »Rechte« und Zhi, der Räuber, »der Schlechte« genannt?
Unterm Himmel opfert sich jeder für irgendetwas auf. Wer sich für Menschlichkeit und Rechtschaffenheit aufopfert, der gilt gewöhnlich als Edelmann; wer sich für Besitz und Wohlstand aufopfert, der gilt gewöhnlich als Kleinbürger. Dass sie sich aufopfern, darin sind sie eins, doch einige gelten als Edelmann, andere als Kleinbürger; indem sie ihrer Natur schaden und ihr Leben verkürzen, ähneln sich Zhi, der Räuber, und Bo Yi; wo ist da der Unterschied zwischen Edelmann und Kleinbürger?
Wer seine Natur der Menschlichkeit und Rechtschaffenheit unterordnet, auch wenn er es so weit bringt wie Ceng und Shi, der hat meines Erachtens keine besondere Begabung; wer seine Natur den fünf Sinnen unterordnet, auch wenn er es so weit bringt wie Yu Er, der hat meines Erachtens keine besondere Begabung; wer seine Natur den fünf Tonarten unterordnet, auch wenn er es so weit bringt wie Shi Kuang, der hat meines Erachtens kein besonderes Hörvermögen; wer seine Natur den fünf Farben unterordnet, auch wenn er es so weit bringt wie Li Zhu, der hat meines Erachtens kein besonderes Sehvermögen.
Meines Erachtens hat Begabung nichts mit dem zu tun, was Menschlichkeit und Rechtschaffenheit genannt wird, sondern mit der Begabung, seine Lebenskraft zu entfalten, und damit genug. Meines Erachtens hat Begabung nichts mit dem zu tun, was Menschlichkeit und Rechtschaffenheit genannt wird, sondern mit der Kunst, seiner ursprünglichen Natur Raum zu geben, und damit genug. Meines Erachtens bedeutet Hörvermögen nicht, dieses und jenes zu hören, sondern sich selbst zu hören, und damit genug. Meines Erachtens bedeutet Sehvermögen nicht, dies und jenes zu sehen, sondern sich selbst zu sehen, und damit genug.
Wer sich selbst nicht sieht, aber dieses und jenes sieht, der findet nicht zu sich selbst, sondern findet nur dieses und jenes; der findet, was andere finden, aber zu sich selbst zu finden, dazu findet er keinen Zugang; er passt sich dem an, woran sich die anderen anpassen, aber er passt nicht zu dem, was zu ihm selbst passt. Er passt nicht zu dem, was zu ihm selbst passt, sondern passt sich dem an, woran sich die anderen anpassen. Ob es sich nun um Zhi, den Räuber, oder Bo Yi handelt – sie haben sich gleichermaßen entfremdet und verloren. Ich fühle mich dem Dao und der Lebenskraft verpflichtet, daher wage ich es nicht, mich zu erhöhen im Namen von Menschlichkeit und Rechtschaffenheit; und wage es nicht, mich zu erniedrigen, indem ich mich von mir entfremde und verliere.
Das Zeichen 士 wird von einigen Übersetzern als »Gelehrter« gelesen, von anderen als »Ritter«. Zhi war Anführer einer Bauernrevolution, der später den Ehrentitel »Großer Räuber« erhielt. Graham und Ziporyn erblicken im Ende dieses Kapitels ein typisches Beispiel für »primitivistisches Denken«, das sich am Daodejing orientiere, das der Verfasser offenbar zitiere. Ein direktes Zitat lässt sich jedoch nicht erkennen.
In diesem Kapitel wird die Frage, was natürlich sei, vom einzelnen Lebewesen auf die Lebenswelt ausgeweitet, die zu ihm passt: Wem es vergönnt ist, an dem Ort und unter den Umständen zu leben, die seiner natürlichen Bestimmung entsprechen, hat alle Voraussetzungen, um glücklich und unbeschwert zu sein. Wer dagegen Lebensformen anstrebt, die seinem Naturell nicht entsprechen, lebt in Sorge und hat Anlass zum Klagen, so ehrenwert seine Ziele auch erscheinen mögen.
Pferde können mit den Hufen durch Schnee und Frost laufen, sich mit dem Fell vor Wind und Kälte schützen, sie fressen Gras und saufen Wasser, heben den Fuß und galoppieren davon. Darin besteht die ursprüngliche Natur der Pferde. Auch wenn sie Terrassen und passable Schlafzimmer zur Verfügung hätten, würden sie diese nicht benutzen.
Dann erschien [der Pferdegutachter] Bo Le (Onkel Wonne) und sprach: »Ich weiß gut mit Pferden umzugehen.« Er sengte und scherte ihnen das Fell ab; schnitt ihnen die Mähne, band sie zusammen mit Zaumzeug und Zügel, fesselte sie, damit sie im dunklen Stall stehen blieben; zwei oder drei von zehn Pferden starben dabei; er ließ sie hungern und dürsten, ließ sie galoppieren und traben in geordneter Formation, vorne an ein fürchterliches Joch gebunden, von hinten mit einer Peitsche angetrieben, und dabei starb mehr als die Hälfte der Pferde.
Der Töpfer sprach: »Ich weiß gut mit Ton umzugehen, für runde Waren verwende ich die Scheibe, für eckige den Winkel.«
Der Zimmermann sprach: »Ich weiß gut mit Holz umzugehen; um es zu biegen, benutze ich Haken, um es geradezustrecken, benutze ich Seile.«
Entspricht es der Natur von Ton oder von Holz, mit Scheibe, Winkel, Haken und Seil bearbeitet zu werden? So wird seit Generationen behauptet: »Bo Le ist ein guter Pferdebändiger, der Töpfer ein Meister im Umgang mit Ton, der Zimmermann ein Meister im Umgang mit Holz.« Dies ist der Fehler, den auch die Herrschenden unterm Himmel begehen.
Ich denke, wer den Staat gut regiert, handelt nicht so. Die Menschen folgen ihrer beständigen Natur: Sie weben, um sich zu kleiden; ackern, um zu essen – dies heißt verbindende Lebenskraft, darin sind sie eins und entzweien sich nicht voneinander – so zu leben, entspricht dem Freiraum, in den uns die Natur entlässt.
Daher: Wenn die Lebenskraft vollkommen ist, geht man gemächlich und sieht sich aufmerksam um. In dieser Zeit kennen die Berge keine Wege und Tunnel, kennen die Seen keine Boote und Brücken; die zahllosen Lebewesen leben in Gruppen, jede Art an ihrem natürlichen Ort; Vögel und wilde Tiere vermehren sich; Gräser und Bäume gedeihen. Es ist möglich, Vögel und wilde Tiere spazieren zu führen, und man kann zu einem Elsternest hochklettern, um hineinzuschauen. Wenn die Lebenskraft vollkommen ist, wohnen die Menschen gemeinsam mit Vögeln und wilden Tieren, zusammen mit den zehntausend Lebewesen – was wissen sie dann vom Unterschied zwischen Edelmann und kleinen Leuten? Vereint in Unwissenheit, kommt ihnen die Lebenskraft nicht abhanden; vereint in Wunschlosigkeit, befinden sie sich im Zustand ursprünglicher Einfachheit. Im Zustand ursprünglicher Einfachheit finden die Menschen zu ihrer Natur.
Dann erscheint der Weise und verkündet: Verletzte und Hinkefüße verdienen Menschlichkeit; sich auf Zehenspitzen zu stellen, gilt als Rechtschaffenheit – und zum ersten Mal erscheint unterm Himmel der Zweifel; plätscherndes Wasser dient als Musik; das Besondere zu suchen, wird zum Ritual – und zum ersten Mal werden unterm Himmel Unterschiede gemacht. Wenn man, was sich im ursprünglichen Zustand befindet, nicht bearbeitet, wie kann man dann Opfergefäße fertigen? Wenn man reine Jade nicht bricht, wie kann man daraus Zepter und Medaillen fertigen? Wenn das Dao und die Lebenskraft nicht fallengelassen werden, wozu brauchte man dann Menschlichkeit und Rechtschaffenheit? Wenn der natürliche Zustand unzerteilt erhalten bleibt, wozu braucht man dann Rituale und Musik? Wenn die fünf Farben keine Verwirrung stiften, wer fertigt dann schöne Ornamente? Wenn die fünf Töne keine Verwirrung stiften, wer hielte sich dann an die sechs Harmonien? Das ursprünglich Gegebene zu bearbeiten, um daraus Waren zu fertigen, ist der Fehler des Handwerkers; das Dao und die Lebenskraft fallenzulassen, um dann Menschlichkeit und Rechtschaffenheit zu fordern, ist der Fehler des Weisen.
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