Danach erkannte Liezi selbst, dass er noch gar nicht begonnen hatte, wirklich zu lernen und zum Eigentlichen zurückzukehren; drei Jahre lang ging er nicht mehr aus dem Haus. Er kochte für seine Frau, fütterte die Schweine, als versorge er Menschen. Es gab nichts, wofür er eine besondere Vorliebe hegte; was mit Schnitzereien verziert war, verwandelte er wieder in etwas Einfaches; einem Klotz glich seine körperliche Erscheinung, so stand er für sich. Was Verwirrung stiftete, hielt er fern; eins mit sich lebte er bis an sein Ende.
Tue nichts, und du wirst nach dem Tod berühmt sein;
tue nichts, und deine Pläne werden aufgehen;
tue nichts, und du wirst die Angelegenheiten meistern;
tue nichts, und du weißt zu herrschen.
So verkörperst du die Fülle, die sich nicht erschöpft,
und streifst umher, ohne Spuren zu hinterlassen;
so empfängst du die Fülle der Natur
und bemerkst nicht, was du erhältst;
leer sein – das ist genug.
Der vollkommene Mensch benutzt den Herz-Geist als Spiegel:
er verfolgt nichts, er geht nicht entgegen;
er antwortet, aber beansprucht nicht –
daher kann er gewinnen, ohne zu verletzen.
Der Stil dieses Abschnitts erinnert stark an das Buch Laozi.
Der Herrscher über das Südmeer war Shu (der Schnelle); der Herrscher über das Nordmeer war Hu (der Plötzliche); der Herrscher über die Mitte war Hundun (der Wirre). Der Schnelle und der Plötzliche trafen sich von Zeit zu Zeit auf dem Territorium des Wirren, und Hundun begegnete ihnen freundlich. Der Schnelle und der Plötzliche wollten diese Zuvorkommenheit erwidern und sprachen: »Alle Menschen haben sieben Öffnungen, durch die sie sehen, hören, essen und atmen können; nur dieser hier hat keine einzige – lass uns eine in ihn bohren.«
Von nun an bohrten sie jeden Tag eine Öffnung in ihn – am siebenten Tag war Hundun tot.
外篇
Äußere Kapitel
8
駢拇 (pián mǔ)
Miteinander verwachsene Zehen
Was ist natürlich? Was ist gekünstelt? Wo liegt die Grenze? Ausgehend von ungewöhnlichen Körperformen, unterzieht Zhuangzi in diesem Kapitel Kultur und Ethik einer kritischen Betrachtung: Gehören sie zur Natur des Menschen oder führen sie ins Unglück, zumindest, wenn man es mit ihnen übertreibt?
Miteinander verwachsene Zehen oder ein sechster Finger – so etwas bringt die Natur zuweilen hervor, aber um Lebenskraft zu erlangen, sind sie überflüssig. Ein Geschwulst oder eine heraushängende Warze bringt der Körper zuweilen hervor, aber um Natürlichkeit zu erlangen, sind sie überflüssig. Wer Menschlichkeit und Rechtschaffenheit vervielfacht und nutzt, bringt sie in Verbindung mit den fünf Organen, aber dies entspricht nicht dem Dao und der Lebenskraft. Daher sind Verwachsungen zwischen den Zehen nutzloses Fleisch, ein zusätzliches Glied an der Hand ist ein nutzloser Finger; wer auf vielerlei Weise Verwachsungen und Anhängsel auf der natürlichen Form seiner fünf Organe wachsen lässt, der übertreibt auch im Gebrauch von Menschlichkeit und Rechtschaffenheit und strebt danach, in vielerlei Art und Weise sein Hör- und Sehvermögen anzuspannen.
Daher: Wer sein Sehvermögen übersteigert, kann die fünf Farben nicht unterscheiden, lässt sich betören von Linien und Mustern, lässt sich blenden von Grün und Gelb sowie Schwarz und Grün auf den Kleidern, nicht wahr? Li Zhu (Roter Abschied) war so einer. Wer sein Hörvermögen vervielfacht, den verwirren die fünf Töne, der lässt sich betören von den sechs Tönen, [von Musikinstrumenten aus] Metall und Stein, Seide und Bambus, von der Gelben Glocke und der Großen Trompete – nicht wahr? Meister Kuang (Virtuos) war so einer.
Wer es mit der Menschlichkeit übertreibt, hält die Tugend hoch und unterdrückt seine Natur, um seinen Ruhm und Ruf zu vergrößern, verführt mit Flöte und Trommel alle unterm Himmel, unerreichbare Ziele anzustreben, nicht wahr? Zeng Can (Überraschung) und Shi Qui (Geschichtsschreiber) waren von dieser Art. Wer ausufert in Erörterungen und seine Worte wie Ziegel aufstapelt oder wie Knotenschnüre miteinander verknüpft, der lässt seinen Herz-Geist schweifen zwischen »hart« und »weiß«, »gleich« und »verschieden«, der verausgabt sich in kleingeistigen Lobhudeleien und nutzlosen Reden, nicht wahr? Yang Zhu und Mo Di waren von dieser Art.
Daher: All das sind Methoden, Verwachsungen und Auswüchse zu vervielfachen, nicht das natürliche Maß unterm Himmel. Das rechte Maß ist: den ursprünglichen Zustand seines Lebens nicht zu verlieren. Daher wird als passend betrachtet, was nicht verwachsen ist; und Auswüchse werden nicht als zusätzliche Zehen betrachtet; als lang wird nicht betrachtet, was überflüssig ist, als kurz wird nicht betrachtet, wo etwas fehlt. Daher: Die Wildente hat kurze Füße, doch würde man sie langziehen, würde es sie schmerzen; der Kranich hat lange Beine, doch würde man sie kurzschneiden, wäre er traurig. Daher: Was von Natur aus lang ist, soll nicht kurzgeschnitten werden; was von Natur aus kurz ist, soll nicht langgestreckt werden – auf diese Weise beseitigt man keinen Kummer.
Ich denke, dass Menschlichkeit und Rechtschaffenheit nicht zur Natur des Menschen gehören. Wenn Menschlichkeit dem Menschen eigen wäre, würde sie dann so viel Kummer bereiten? Wenn die Zehen miteinander verwachsen sind, und sie werden aufgeschnitten, dann gibt es Tränen; wenn ein sechster Finger von der Hand abgeschnitten wird, dann gibt es Geheule. Von diesen beiden hat der eine zu viel, der andere zu wenig – beiden bereitet es Kummer.
Menschen, denen Menschlichkeit eigen ist in der heutigen Zeit, blicken mit traurigen Augen und voller Sorge auf das Unheil in dieser Welt; Menschen, denen keine Menschlichkeit eigen ist, krempeln die lebendige Natur um in ihrer Gier nach Reichtum und Ruhm. Daher denke ich, dass Menschlichkeit und Rechtschaffenheit nicht zur Natur des Menschen gehören. Von den Drei Dynastien an, wie viel Lärm und Gezänk haben sie unterm Himmel hervorgerufen?
Die Passage spielt auf die Mohisten an, d. h. die Anhänger der Lehre des Mozi (Mo Di), der im 5. Jahrhundert v. u. Z. lebte, umfassende Liebe (兼愛, jiān ài) und gegenseitige Unterstützung (相利, xiāng lì) predigte, die Menschlichkeit (仁, rén) aber der Rechtschaffenheit (義, yì) unterordnete. Er schuf damit den »Konfuzianismus fürs Volk«. Mit den Drei Dynastien sind Xia, Shang und Zhou gemeint.
Was mit Haken und Schnur, Zirkel und Winkelmaß zurechtgerückt wird, ist zurechtgestutzte Natur; was mit Schnur, Leim und Lack wiederhergestellt wird, büßt seine Lebenskraft ein; das Katzbuckeln und Unterbrechen in Ritus und Musik, das Bekräftigen von Menschlichkeit und Rechtschaffenheit bei angehaltenem Atem, um den Herz-Geist unterm Himmel zu beruhigen – damit geht ihre gewöhnliche Natürlichkeit verloren. Es gibt sie unterm Himmel, die gewöhnliche Natürlichkeit. Die gewöhnliche Natürlichkeit biegt ohne Haken, richtet gerade ohne Schnur, rundet ab ohne Zirkel, macht rechteckig ohne Winkelmaß, fügt zusammen ohne Leim und Lack, verbindet ohne Stricke.
Daher: Unterm Himmel leben alle natürlich, ohne zu wissen, wie es kommt, dass sie leben; alle erhalten es gleichermaßen, ohne zu wissen, wie es kommt, dass sie es erhalten. Daher: Vom Altertum bis heute sind diese beiden Dinge nicht [voneinander getrennt], nichts kann dem etwas anhaben. Warum soll man mit Menschlichkeit und Rechtschaffenheit die Dinge kitten wie mit Leim und Lack, Schnüren und Stricken und umherwandern zwischen Dao und Lebenskraft? Welche Verwirrung entstünde dann unterm Himmel!
Wer ein wenig verwirrt ist, verwechselt rasch die Richtung; wer sehr verwirrt ist, zerstört seine natürlichen Anlagen. Woher weiß ich, dass es so ist? Seit der große Yu Menschlichkeit und Rechtschaffenheit predigte, um damit unterm Himmel alle irrezuleiten, gibt es niemanden, der nicht sein Leben lang der Menschlichkeit und Rechtschaffenheit hinterherhetzt – entfernen uns Menschlichkeit und Rechtschaffenheit nicht vom Natürlichen?
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