Uwe Rada
Siehdichum
Annäherungen an
eine brandenburgische
Landschaft
Mit Fotografien
von Inka Schwand
Für meine Frau Inka Schwand, mit der ich ins Schlaubetal gezogen bin,
und für Diana Baesler, die uns hier ankommen ließ.
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ebook im be.bra verlag, 2021
© der Originalausgabe:
berlin edition im be.bra verlag GmbH
Berlin-Brandenburg, 2021
KulturBrauerei Haus 2
Schönhauser Allee 37, 10435 Berlin
post@bebraverlag.de
Lektorat: Ingrid Kirschey-Feix, Berlin
Umschlag: typegerecht berlin
ISBN 978-3-8393-2145-4 (epub)
ISBN 978-3-86124-742-5 (print)
www.bebraverlag.de
Torfstiche Grunow
Am Bahnhof Grunow
Wasserscheide Dammendorf, Bremsdorf
Siehdichum
Die Schlaube
Unter den Eichen Krügersdorf
Holznot. Notholz Schernsdorf
Im toten Winkel
Landschaftspuzzle
Himmlisches Theater Neuzelle
Heidereiterei Dammendorf, Friedland
Ausmisten Beeskow
Wendische Kirche Lieberose
Offene Erinnerungslandschaft Jamlitz
Über Oder und Neiße Ratzdorf
Kohle machen Schönfließ
Werk und Stadt Eisenhüttenstadt
Auf den Tisch Kieselwitz, Berlin-Neukölln
Der Nord-Süd-Konflikt Frankfurt, Lübben
Tief durchatmen Ranzig, Müllrose
Neue Wildnis Lieberoser Heide
Stoffwechsel Müllrose
Abendrunde Grunow
Karte
Literatur
Danke
Der Autor
Mit dem Namen Siehdichum haben die Mönche des Klosters Neuzelle nicht nur den schönsten und wildesten Ort des Schlaubetals gewürdigt, sondern der Nachwelt auch ein Vermächtnis hinterlassen. Siehdichum ist eine Aufforderung, die Sinne zu schärfen, die Landschaft mit eigenen Augen zu sehen und zu beschreiben, ohne dabei zu vergessen, warum sie so geworden ist. Siehdichum heißt aber auch: Bleib nicht stehen, mache dich auf den Weg, begib dich selbst auf die Suche nach anderen Orten, die diesen Namen verdienen.
Mein Siehdichum ist deshalb realer Ort und Imagination zugleich, ästhetischer Imperativ und Platzhalter für eine weitgehend unbekannte Region im toten Winkel zwischen Mark und Niederlausitz. Als Sehschule macht Siehdichum neugierig auf das Verhältnis von Landschaft und Geschichte, Metropole und Provinz, Mensch und Wald. Und es öffnet den Blick für eine ganz neue Sicht auf eine Region, die bislang noch nicht einmal einen Namen hatte.
Grunow
Meine erste Begegnung mit den Torfstichen hatte ich, bevor ich wusste, dass es die Torfstiche waren. Es war an einem Nachmittag Ende August. Über dem Feld stand die Abendsonne und tauchte die gelb blühenden Senfhalme samt dem Waldsaum dahinter in ein mildes Licht. Wir gingen am Feldrand entlang und kletterten durch eine Senke, durch die einmal die alte Bahnstrecke von Frankfurt nach Cottbus führte. Um zur Niederung der Oelse zu gelangen, deren Namen ich erst einige Tage zuvor zum ersten Mal gehört hatte, mussten wir uns durch dichte Brombeerbüsche und das Unterholz schlagen, dann standen wir vor einem See. Eine Tarkowski-Landschaft, dachte ich augenblicklich, einen anderen Vergleich hatte ich nicht zur Hand. Wäre Stalker, der Film des sowjetischen Regisseurs Andrej Tarkowski, nicht an der Pirita bei Tallinn, sondern in Brandenburg gedreht worden, müsste er genau an dieser Stelle spielen.
Vor uns breitete sich eine Landschaft aus, geheimnisvoll, schweigsam und fast gespenstisch unberührt. In die Mitte des schmalen Sees ragte von Norden eine Landzunge, bestanden mit Totholz, die Erlenstämme steckten in kleinen Grüppchen im Sumpf, über ihnen übten Kraniche den Flug in den Süden. Kahle, astlose Stämme, die sich im Wasser spiegelten und etwas Unheimliches ausstrahlten als ob sie zur unbewohnten Zone unseres Bewusstseins gehörten. Ich versuchte zu fotografieren, was ich sah, und wusste doch, dass es mir nicht gelingen würde. Wie fotografiert man eine Tarkowski-Landschaft?
Auch am Ufer gegenüber, hinter der Halbinsel, standen die Erlen wie Bleistifte ins Wasser gesteckt, als hätten sie sich versammelt zu einem Totengebet. Der See, das konnte ich an der kleinen Sandbucht sehen, die die Brombeersträucher freigegeben hatten, streckte sich von Norden nach Süden, wo er bald zu Ende war und in ein Niedermoor überging. Nach Norden hin sah ich kein Ende, je weiter wir gingen, desto unzugänglicher wurde das Unterholz, das Dickicht schloss sich, kein Weg, der weiterführte, nicht einmal ein Trampelpfad.
Das Wasser des Sees, den die Oelse an dieser Stelle bildete, sah trübe aus, kein Ort zum Abbaden. Vor dem Ufer vereinzelte Büschel von Seggen, ich konnte nicht erkennen, wie tief das Wasser reichte. Die Oelse, das hatte ich der Karte entnommen, die seit ein paar Tagen in unserer Küche hing, entspringt dem Möschensee, fließt durch den Chossewitzer See, speiste vor Zeiten einige Mühlen, die längst nicht mehr in Betrieb sind, und mündet schließlich, da hat sie die Tarkowski-Landschaft längst verlassen, bei Beeskow in die Spree. Das Wasser, vor dem wir standen, würde also irgendwann durch Berlin und weiter dann über die Elbe und Hamburg in die Nordsee fließen.
Aber Hamburg und die Nordsee waren an diesem Nachmittag Ende August weit entfernt. Eher hatte ich das Gefühl, an einem Ort zu sein, an dem die Zeit nicht nur stillstand. Vielleicht war auch ich in eine andere Zeitzone geraten. Das Wasser zu unseren Füßen regte sich kaum, nur bei einem Windstoß kräuselte sich die Oberfläche. Die Kraniche zogen längs des Sees und zwei Schwäne, die an seinem Ende waghalsige Landungen veranstalteten. Trotz ihres Lärms lag über dieser unwirklichen Landschaft eine unwirkliche Stille. Kam diese Stille aus mir?
Als ich einige Tage später wieder an diesen Ort zurückkehren wollte, fragte unsere Nachbarin: Du gehst zu den Torfstichen? Nein, antwortete ich etwas verunsichert, ich will noch einmal hinunter zu dieser wilden Landschaft an der Oelse und zu diesem See. Das sind ehemalige Torfstiche, lächelte die Nachbarin, früher haben sie dort Torf abgebaut, zur Bodenverbesserung. Nur war der Torf sauer und musste mit Kalk abgebunden werden. Ich nickte. Später entdeckte ich, dass das Gebiet als jüngstes Naturschutzgebiet in Brandenburg ausgewiesen worden war. Die Tarkowski-Landschaft, die ich entdeckt hatte, hatte einen amtlichen Namen: »Oelseniederung mit Torfstichen«.
Eine Zeitlang ging ich dann nicht mehr zu den Torfstichen. Wollte die erste Begegnung mit der Landschaft, die mich seit diesem Augusttag beheimatet, nicht verblassen lassen durch ein Übermaß an Wiederholung. Wollte den Zauber der Landschaft nicht unnötig strapazieren. Wollte mich dem See, den ich entdeckt hatte, auch nicht von Westen her nähern, dort wo die Bleistifterlen ihr Totengebet halten. Auf den Karten sind dort seltsame Waben eingezeichnet. Zelte oder Tarnnetze, schien es uns, als wir in den Tagen unserer Ankunft bei Google Maps nachschauten. Tatsächlich ist es ein Munitionsdepot der Bundeswehr. Zunächst hat uns das noch beunruhigt. Mit der Zeit haben wir es ausgeblendet. Es ist hinter der unwirklichen Landschaft an der Oelseniederung, weit weg, auf der gegenüberliegenden Seite.
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