Nicht so ausgeprägt und verbissen wie in England, gab es gleichwohl auch in den USA eine ähnliche Tendenz, die Deutschen auf ihre NS-Vergangenheit festzulegen. Ich erinnere nur an den Bestseller von William L. Shirerüber die angeblich von Hitler geplante Invasion in den USA (1961), an die Holocaust -Serie (1978) oder an Goldhagens Hitlers willige Vollstrecker (1996). Der Vorwurf ging seit der Wiedervereinigung aber eher dahin, die Deutschen benutzten jene böse Vergangenheit als Vorwand, um sich vor den harten NATO-Aufgaben zu drücken.
Hier knüpft nun Trump an und spitzt die Argumentation zu: Wir sollen mehr für die Rüstung ausgeben und für unsere Sicherheit selber sorgen. Auch die Polemik gegen die deutschen Exportüberschüsse ist nicht neu. Neu ist nur, dass Trump tatsächlich zum Protektionismus zurückkehren will, dass er darüber hinaus den Brexit begrüßt und wie viele Briten folgender Meinung ist: »Im Grunde ist die EU ein Mittel zum Zweck für Deutschland (…). Wenn Sie mich fragen, es werden weitere Länder austreten.« 15Vergleicht man diese Einstellung mit Großbritannien, so erfolgt die Distanzierung der USA von Europa aus einer ohnehin schon größeren Distanz und Überlegenheit. Die USA haben Europa zunächst gegen die Sowjetunion unterstützt, sich aber schon unter Reagan über europäische Interessen hinweggesetzt, unter Bush Jr. dann an der EU vorbei gehandelt und gegen sie polemisiert, 16und sie wollen jetzt die Verpflichtungen, die sich aus ihrer Machtstellung ergeben, möglichst ganz lösen und wieder freie Hand haben.
Das führt uns nun zu den tieferen historischen Gründen bzw. Hintergründen des gegenwärtigen Abschieds der Angelsachsen vom Kontinent und Deutschland. Wenn wir sie ausfindig machen wollen, so sollten wir bis zum Siebenjährigen Krieg (1756–63) zurückgehen, denn in ihm hat sich bekanntlich der Keim des deutschen Nationalstaats herausgebildet, und zwar schon damals in der Mitte zwischen den Flügelmächten in West und Ost. Das Preußen Friedrichs war sozusagen ein Kind der Liebe, zuerst Englands und dann Russlands. Denn mit dem Beginn des Krieges erfasste die Briten eine Begeisterung für Preußen, wie man sie sich heute gar nicht mehr vorstellen kann. 17Im ganzen Land wurden die ersten Siege Friedrichs enthusiastisch gefeiert, besonders der über die Franzosen bei Roßbach Anfang November 1757. Aus Anlass seines Geburtstags im Januar 1758 huldigte man im Parlament und in den Kirchen, in den Kneipen und auf den Straßen dem »preußischen Helden«. Dass er überhaupt »der Große« genannt wird, verdankt er den Briten! Auf Teekannen und Bierkrügen war sein Kopf zu sehen. Die Schiffe schossen Salut, das Militär paradierte zu seinen Ehren, und es gab sogar Freiwilligenverbände, die sich in der »preußischen Disziplin« übten! Die Solidarität mit Friedrich hatte auch Hand und Fuß, denn er wurde finanziell kräftig unterstützt. Was war aber der Grund dieser überschwänglichen Liebe der Engländer? Dass Preußen ihren großen Gegner Frankreich in Europa festhielt und beschäftigte, so dass sie ihn in Indien und Nordamerika besiegen konnten! Preußen diente also als Assistent bzw. Instrument des britischen Weltmachtstrebens, was William Pitt, der damals leitende Minister, recht treffend in die Worte fasste, Amerika sei in Deutschland erobert worden. Entsprechend zahlten die Briten 1761, als der Krieg in Amerika im Grunde entschieden war, an Preußen auch keine Subsidien mehr – obwohl es sich gerade in einer ganz verzweifelten Lage befand. Das war der plötzliche Liebesentzug, der den vorangegangenen Überschwang als trügerisch erwies. Das müssten unsere heutigen Westler eigentlich gut nachempfinden können, auch wenn sie mit Preußen nichts mehr zu tun haben wollen. Preußen wurde nur gerettet, weil 1762 völlig überraschend der neue russische Zar Peter III., ein glühender Verehrer Friedrichs, aus der Koalition gegen Preußen ausbrach und mit Friedrich Frieden schloss. Wir können an Gorbatschow denken, der in den 1980er Jahren als Retter begrüßt wurde – zwar nicht aus einem tatsächlichen Krieg, aber aus der Gefahr eines Atomkriegs, der Deutschland wahrscheinlich vernichtet hätte.
Die napoleonischen Kriege verliefen nach einem ganz ähnlichen Schema: Die deutschen Länder hatten physisch die Hauptlast zu tragen, England bezahlte große Summen und stand am Ende als der unüberwindliche Weltherrscher da. Preußen blieb nach 1806 als Staat überhaupt nur bestehen, weil der Zar sich gegenüber Napoleon dafür eingesetzt hatte. Es musste in den Jahren der französischen Besetzung (bis 1808) für Kontributionen, Verpflegung, Sachlieferungen und Arbeitsleistungen eine Summe aufbringen, die dem Sechzehnfachen des Jahresaufkommens des preußischen Staates entsprach. 18Es wird oft als Verdienst der Briten angesehen, dass sie eine Hegemonie in Europa verhinderten und für das Gleichgewicht der Mächte sorgten. Bei näherem Hinsehen bildet dieses »Gleichgewicht« aber die Grundlage der britischen Expansion in die Welt! Und nicht nur dieses »Gleichgewicht« war die Grundlage, sondern das Kriegselend der Deutschen! Die Deutschen wurden deshalb unterstützt und »geliebt«, weil sie sich für Großbritannien in dieser Weise als nützlich erwiesen. Das ist für einen politischen Realisten zwar nicht überraschend, nur darf er dann die deutsche Politik des 19. und auch teilweise des 20. Jahrhunderts nicht pauschal verdammen, sondern muss sie als den verständlichen Versuch interpretieren, aus dieser Rolle des Dieners und Werkzeugs auszubrechen.
Von Bismarck ist eine Äußerung überliefert, die wieder auf die gegenwärtige Wendung der Dinge angewandt werden könnte: »Ich habe, was das Ausland anbelangt, in meinem Leben nur für England und seine Bewohner Sympathie gehabt und bin stundenweis noch nicht frei davon; aber die Leute wollen sich ja von uns nicht lieben lassen.« 19Der Satz ist übrigens von Tirpitz wörtlich in seine Erinnerungen übernommen worden. 20Was soll das aber heißen, dass die Briten nicht geliebt werden wollen? Sie wollen es nicht, weil sie dann Gegenliebe aufbringen müssten, selber lieben müssten. Ohne Lyrik ist der Satz von Bismarck nur eine Umschreibung des von Lord Palmerston (1784–1865), dem britischen Außenminister formulierten Prinzips, dass Großbritannien keine dauerhaften verpflichtenden Bündnisse eingehen dürfe. 21Das hat es bis 1945 im Großen und Ganzen auch so gehalten. Will es heute etwa – freilich mit den USA zusammen – zu dieser Tradition zurückkehren?
Im 19. und 20. Jahrhundert hat dennoch das Werben um die »Liebe« (oder wenigstens die Nichtfeindschaft) Englands auf deutscher Seite nicht aufgehört. So hat Wilhelm II., obwohl er selber zur Entfremdung von England nicht wenig beigetragen hatte, im Sommer 1914 bis zuletzt gehofft, dass es nicht in den Krieg eintreten werde, und seine späteren Hassreden können leicht auf enttäuschte Liebe zurückgeführt werden. Immerhin war er äußerlich gesehen in England so unbeliebt nicht: Königin Victoria war 1901 in seinen Armen gestorben; bei seinen regelmäßigen Besuchen in London wurde er umjubelt; er war Ehrenbürgervon London, Ehrendoktor von Oxford, Ritter des Hosenbandordens… Freilich beweist all das nur, welch geringe Rolle die Fürstenhäuser mit ihren Verbindungen 1914 letztlich spielten. 22
Noch klarer liegen die Dinge aber bei Hitler. Denn es gab, soweit ich sehe, vor 1933 keinen deutschen Staatsmann, der die Briten und Amerikaner so bewundert hätte wie Hitler. Um nur ein charakteristisches Zitat zu bringen: »Wenn die Erde heute ein englisches Weltreich besitzt, dann gibt es aber auch zurzeit kein Volk, das aufgrund seiner allgemeinen staatspolitischen Eigenschaften sowie seiner durchschnittlichen politischen Klugheit mehr dazu befähigt wäre (…).« 23Entsprechend enttäuscht war Hitler 1939, als er keine Gegenliebe mehr fand. Es war ja von Anfang an seine Gegenkonzeption zur Politik des Kaiserreichs gewesen, in Richtung Osten zu expandieren, mit England zu einem Bündnis zu kommen bzw. zu einer Abgrenzung der jeweiligen Einflusssphären und die USA dabei möglichst herauszuhalten. Zunächst hatte er damit ja auch Erfolg, wenn wir etwa an die Appeasement-Politik unter Chamberlain denken, die Hitler außenpolitisch Auftrieb gab, oder überhaupt an die gewaltige Faszination, die das Dritte Reich auf viele Briten ausübte. Britische Besucher kamen seit 1933 in Scharen, um das neue Deutschland mit eigenen Augen zu sehen und sein Führungspersonal kennenzulernen. Sie berichteten meist begeistert über ihre Eindrücke in den Zeitungen. Eine solche Attraktivität hatte die Weimarer Republik für die Engländer nie besessen. 24Auch vergleichbare politische Zugeständnisse waren ihr nicht gemacht worden. Was in der Tat viel aussagt über die großen Verfechter der Demokratie! Dass die Engländer Hitler dann 1939 plötzlich die kalte Schulter zeigten, hat er daher nie verstanden. Das nennt man im persönlichen Leben eben verschmähte Liebe, und eine solche Kränkung kann sehr tief gehen. Heute, im Nachhinein, verstehen wir zwar, warum es wohl so kommen musste. Der Nationalsozialismus sollte, aus britischer Sicht, ein Bollwerk gegen den Bolschewismus bilden, aber weder sollte er mit ihm paktieren, noch ihn besiegen, denn dann wäre das Dritte Reich zu mächtig geworden. – Aber verstehen wir auch, warum uns, obwohl wir doch keine Nazis sind und es keinen Bolschewismus mehr gibt, heute wieder die kalte Schulter gezeigt wird?
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