Das ist das Dilemma, in dem wir uns befinden. Da wir uns aus Gründen der »Staatsräson« dieses Dilemma aber nicht eingestehen dürfen, verkünden wir meistens nur Halbwahrheiten über Israel und die jüdische Geschichte und lassen Irritationen unter den Tisch fallen. Diese selektive Wahrnehmung ist zwar auch bei anderen Themen eine verbreitete Methode und wahrscheinlich ist es überhaupt unvermeidlich, dass wir immer nur Ausschnitte der Realität sehen und vieles ausblenden. Hier jedoch ist die selektive Erfassung so offensichtlich und so forciert, dass sie nicht als naiv und zufällig gelten kann.
Im Folgenden möchte ich daher versuchen, den Blick zu erweitern und so der ganzen Wahrheit wenigstens auf die Spur zu kommen. Weil dabei vorwiegend unerfreuliche Seiten der jüdischen Geschichte benannt werden, ziehe ich mir wahrscheinlich den Vorwurf des Antisemitismus zu. Dagegen wird meine Beteuerung, dass ich um ihre erfreulichen Seiten sehr wohl weiß und dass es nur um eine ergänzende Korrektur des offiziellen Geschichtsbilds gehe, wohl nicht helfen. Vielleicht hilft aber der Hinweis, dass der heute vorherrschende Umgang mit dieser Geschichte nun wirklich nichts mit dem nüchtern-kritischen Geist zu tun hat, aus dem heraus im Alten Testament Geschichte dargestellt wird und auch heutige jüdische Autoren schreiben! Auf sie habe ich mich daher auch oft stützen können.
Zudem habe ich mir schon mit meinem letzten Buch den Vorwurf des Nationalismus eingehandelt und er dürfte dieses Mal noch lauter erhoben werden. Aber man kommt als Person wie als Nation aus einer Verfehlung nicht dadurch heraus, dass man kurzerhand behauptet, gar nicht mehr da zu sein, oder gar bekundet, nicht mehr existieren zu wollen. Vielmehr muss eine inhaltliche Umorientierung erfolgen, und die deutsche Tradition ist Gott sei Dank so reich, dass dies auch gelingen kann. Wir sollten also nicht abstrakt von Nation reden, sondern inhaltlich bestimmt: Wozu können und wollen wir uns bekennen und wozu nicht? Damit ist auch schon gesagt, dass nationale Identität nicht als Gegebenheit, sondern besser als Aufgabe zu verstehen ist. Ohne gemeinsame Aufgaben und Ziele lässt man sich treiben, von den jeweiligen Umständen oder von anderen bestimmen. Wer nicht weiß, was er will, dem wird man vorschreiben, was er zu wollen hat, oder er wird zum Spielball irgendeines »Schicksals«.
Das vorliegende Buch formuliert in diesem Sinn auch eine Kritik an der Abhängigkeit des Denkens und politischen Handelns der Deutschen von den USA. Vielleicht trägt der neue amerikanische Präsident dazu bei, dass uns ihre Fragwürdigkeit stärker bewußt wird! Ich erinnere nur an den Kosovo-Krieg, an Afghanistan, aber auch an den NSA-Skandal. Aber diese Kritik ist wiederum keineswegs nationalistisch gefärbt, sondern internationalistisch, da sie von vielen geteilt wird und gegen einen übermächtigen Nationalismus gerichtet ist. Die globale Hegemonie der USA kann nicht ernsthaft mit einer globalen Rechtsordnung verwechselt werden. Um diese aber geht es, für sie sollten die Deutschen sich einsetzen. Denn es ist ein böser Widerspruch, wenn der am meisten Gerüstete und Kriegsbereite den Frieden sichert; wenn der einst entschiedenste und erfolgreichste Protektionist für den freien Handel eintritt; oder wenn das Land mit der stärksten rassistischen Tradition die weltweite Durchsetzung der Menschenrechte auf seine Fahne geschrieben hat. Zwar mögen manche es als normal ansehen, dass die Macht der Staaten in ihrem Widerstreit nun einmal nur durch eine überlegene Macht gebändigt werden kann. Das ist ja auch der Weg des Herrschaftsvertrags, den Hobbes zu Beginn der Neuzeit gewiesen hat. Aber haben jene, die so denken, sich die Tragweite dessen hinlänglich bewusst gemacht? So heißt es bei Hobbes zunächst auf die Innenpolitik bezogen: »Der Souverän eines Gemeinwesens (…) ist den staatlichen Gesetzen nicht unterworfen. Denn da er die Macht besitzt, Gesetze zu erlassen und aufzuheben, so kann er auch nach Gutdünken sich von der Unterwerfung durch Aufhebung der ihm unangenehmen Gesetze und durch Erlass neuer befreien. (…) Es ist auch nicht möglich, gegen sich selbst verpflichtet zu sein, denn wer verpflichten kann, kann die Verpflichtung aufheben, und deshalb ist einer, der nur gegen sich selbst verpflichtet ist, nicht verpflichtet.« 2
Der Souverän darf also morden, stehlen und lügen, d.h. genau das tun, was er seinen Untertanen per Gesetz verbietet, was in seinem Fall aber natürlich einen höheren Sinn hat. So kommt es, dass man die kleinen Verbrecher hängt, die ganz großen dagegen nicht nur laufen lässt, sondern sogar ehrt. Der Souverän muss nicht der gute und weise Richter sein, den wir erwarten, die Hauptsache ist, dass er alle Übeltäter an willkürlicher Gewalt übertrifft. Wenn wir das auf die außenpolitische Ebene übertragen, so brauchen wir uns über das, was die USA sich immer wieder erlauben, also gar nicht zu wundern. Auch die globale Führungsmacht muss nicht glaubwürdig sein und ihrem Missbrauch der Macht sind letztlich keine Grenzen gesetzt.
Es ist das alte Problem der Begrenzung und der Verrechtlichung von Herrschaft, das sich heute in globaler Dimension stellt. Es steht hinter meinen Erörterungen zum Nationalsozialismus, denn der Sieg über den Nationalsozialismus fiel bekanntlich mit dem Aufstieg der USA zum globalen Hegemon zusammen. Wenn dieser Aufstieg aber die Hoffnungen, die sich an ihn knüpften, nicht erfüllt hat, man denke nur an die Vereinten Nationen, so erscheint zunächst das Dritte Reich in einem anderen Licht. Darüber hinaus drängt sich aber die Frage auf, ob der Staat, der über eine historisch so unvergleichliche Macht verfügt wie die USA, nicht auch unser Denken und unser Urteilsvermögen sehr weitgehend prägen kann. Es gibt meines Erachtens kaum eine größere Herausforderung für die Philosophie, als diesem Verdacht nachzugehen.
Ein weiteres, sehr elementares Motiv für dieses Buch besteht darin, nicht dumm sterben zu wollen. Ich weile nun schon fast ein dreiviertel Jahrhundert auf dieser Erde und bevor ich von ihr abtrete, wollte ich doch noch etwas Klarheit darüber haben, was es mit der Schuld des Volkes, dem ich angehöre, auf sich hat. Denn es ist ja ausgerechnet das Volk, von dem die ersten beiden »Weltkriege« ausgegangen sind, Kriege, die wirklich die Menschheit als ganze betrafen und erschüttert haben.
Dass ich kein Fachhistoriker bin, habe ich dabei als Nachteil und als Vorteil zugleich empfunden. Ich musste mich auf die Darstellungen der Fachleute stützen, konnte meist nicht zu den Quellen vorstoßen, sondern hatte schon genug damit zu tun, im Meer der Literatur nicht unterzugehen. Andererseits habe ich von diesen fleißigen Leuten viel gelernt – nicht zuletzt aus den Widersprüchen zwischen ihren Deutungen – und hätte mir ohne ihre Hilfe gar kein eigenes Urteil bilden können.
Zur Einleitung: »Enttäuschte Liebe« – Historische Hintergründe von Brexit und Trumps Präsidentschaft
Es hat sich wohl inzwischen herumgesprochen, dass sowohl der Brexit wie auch Trumps Präsidentschaft mehr bedeuten als einen kleinen geschichtlichen Unfall, dass es sich vielmehr um einen Epochenumbruch handelt. Der Spiegel sprach schon im Januar 2017 von einer »Zeitenwende«, vom »Ende des Westens, wie wir ihn kennen«. 3Die Bundeskanzlerin kam, weil die deutschamerikanische Freundschaft ihr ein »Herzensanliegen« ist, erst Ende Mai zu dem Ergebnis: »Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, sind ein Stück vorbei, das habe ich in den letzten Tagen erlebt.« 4Wobei die charakteristische Formulierung »ein Stück (weit)«, die die Aussage abmildern sollte, leider nicht ins Englische übersetzt werden kann, weshalb die Aufregung darüber in den USA groß war. Joschka Fischer hat dann Ende Juli noch einmal in dieselbe Kerbe gehauen: »Wir sind auf uns gestellt.« 5Er hat darauf hingewiesen, dass es ausgerechnet die Gründungs- und Garantiemächte des Westens seien, die diesen Westen und seine Einheit jetzt infrage stellen. 6Ein zwingender Grund für diese »Selbstzerstörung des Westens« sei ihm bisher nicht eingefallen.
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