Von unten flog verblüfftes Schweigen, ansteckend und die Mienen wie Gestalten erstarrend, den Tisch hinauf. Die Verstummten schienen gepackt von gleich lähmendem und eisigem Erschrecken wie Magda, die aller Augen in furchtbarer Frage auf sich gerichtet sah.
Wo war der Kohinoor?
Endlich konnte der Kolziner sprechen. Ohne die Schwester anzublicken, schalt er:
„Das hast du davon! Wertsachen lässt man unter Verschluss! Wahrscheinlich hat jemand mit Arm oder Hand den Stein vom Tisch gefegt.“
Doch gerührt hatte sich während seiner Erzählung nur ein einziger, der Amerikaner! Jetzt sass er scheinbar unbekümmert. Aus den Augen sprach wieder kühle, ernste Unbefangenheit. Perlchen aber lag mit dem Rücken an der Lehne des Stuhls. Einen Ausdruck fast irren Entsetzens trug ihr bleiches Gesicht. In den Augen schimmerten Tränen.
Des Reichstagsabgeordneten Blick forschte unter gefurchten Brauen im Gesicht des Bruders. Wieder wagte keiner der Verwandten zu sprechen oder auch nur sich zu regen, bis der Hauptmann das allgemeine Schweigen der Erstarrung brach:
„Wir müssen suchen!“
Aufspringend nahm er das Licht vom Tisch und hielt es unter die Platte. So gut es mit lahmem Bein ging, beugte er sich über den Fussboden. Joachim, der Jäger, tat ihm nach. Langsam stand der Amerikaner und flink der Reichstagsabgeordnete auf. Für endlose Minuten sah Magda die Herren suchen. Auch sie erhob sich. Vielleicht war der Stein in eine Zufallsfalte ihres Kleides gefallen. Vergeblich schüttelte sie den Rock aus. Die Herren warfen die Zipfel des Tischtuchs auf die Platte und setzten die Stühle an die Wand. Auch die älteren Güssows standen jetzt. Tante Lottchen zitterte in zorniger Empörung. Der Kolziner suchte den Tisch ab, hob jeden Teller, jedes Mundtuch oder Glas, schob Messer und Gabeln, ja die Brötchen zur Seite. Dann schüttelte er finsteren Blickes den Kopf. Der Stein war nicht zu finden.
„Tretet, bitte, auf den Läufer im Mittelgang,“ rief der Hauptmann. Als ältester aktiver Soldat schien er sich Träger der Kommandogewalt zu glauben. Allein suchte er jetzt auf dem vom elektrischen Licht hellbestrahlten, blank und glatt getäfelten Fussboden der Nische. Aergerlich wies er die Verwandten zurück, wenn sie, befangen und verlegen, wieder in die Nische treten wollten. Mochten andere Gäste starren oder lächeln und die Kellner mit dem herbeigelaufenen Geschäftsführer tuscheln! Der Hauptmann wollte gründlich suchen. Den Kopf gebeugt und die Hände auf die Knie gestemmt, ging er nochmals die Nische ab. Mit dem Licht erhellte er die haarfeine Ritze zwischen Wand und Fussboden, griff zunächst mit dem Fingernagel und dann sogar mit dem Taschenmesser hinein. Achselzuckend richtete er sich auf. Den Rücken zur Nische trat er vor die Verwandten, die auf dem den Mittelgang bedeckenden Läufer standen. Auch hier hatte er schon gesucht, aber bückte sich nochmals. Hochrot hob er dann das heisse Gesicht mit den geschwollenen Adern:
„Der Läufer hat eine Dicke von zwei Fingern. Ueber ihn hinweg in den Gang kann der Stein also nicht gerollt sein. Er liegt hier in der Nische oder . . .“ Hauptmann Fritz verstummte. Der Argwohn in seinen Augen schien hinzuzufügen: „Einer von euch hat ihn!“
Unwillkürlich schlugen die Verwandten die Augen nieder. Niemand wagte zu atmen, niemand an seinen Platz zu gehen, obwohl die Kellner mit den Bratenschüsseln warteten. Der Kolziner sah sie und hinter ihnen neugierige Gäste des Restaurants. Die Familie durfte sich nicht lächerlich machen. Für sie fragte er den Hauptmann:
„Hältst du es für möglich, den Stein durch längeres Suchen noch zu finden?“
„Ausgeschlossen, Onkel!“
Da wendete der Alte sich streng zur Schwester:
„Dann wird gegessen und später meinetwegen nochmals gesucht. Um anderer Torheit willen mag ich meinen Braten nicht kalt werden lassen.“
Vergeblich widersprach Frau von Güssow. Zorn schüttelte ihre hagere Gestalt und nahm ihr den Atem. Eine Röte wie von brennendem Fieber färbte ihr Gesicht. Ihre Augen feuchteten sich, obwohl sie sich rühmte, niemals zu weinen. Aber der Bruder wies ihre Bitten und Einwände ab, fasste sie entschlossen beim Ellbogen und führte sie an ihren Platz. Die Verwandten folgten zögernd und beugten sich schweigend über die Teller, die der Kellner füllte. Ohne aufzublicken, assen sie spärlich und stumm. Ihr Appetit war geschwunden. Wer flüchtig die Augen hob, sah noch immer gerötete Gesichter, auf denen Unbehagen, Aerger oder gar Misstrauen lag. Vergeblich ermunterte der Kolziner die Herren zum Trinken. Auch der Wein schmeckte nicht mehr. Frau von Güssow ass überhaupt nicht. Ueber die Trauer um den Verlust des Kohinoors siegte Zorn. Wut kochte hinter ihren fieberroten Wangen. Der argwöhnische Blick ihrer harten Augen haftete vorwurfsvoll an Magda, an dem Vetter aus Amerika und — seltener — an Karl. Zwischen den dreien hatte der Stein gelegen. Einer von ihnen hatte ihn genommen.
Eberhard sah ihre Blicke und fühlte, dass ihr die drei unten am Tisch als Aussenseiter in der Familie von Grundherren und Soldaten galten. Auch Bruder Karl hatte ja seinen Beruf verfehlt und sich als Referendar ausser Dienst der Politik verschrieben. Die anderen Verwandten dachten wohl ähnlich wie die Tante. Joachim der Jäger und Fritz der Artillerist, die den Aussenseitern Nächsten, sassen steif. Wenn ihre Augen forschend nach unten glitten, schienen sie über eine Kluft zu schauen.
Auch er glaubte die Kluft zu sehen. Wer hier die Schuldfrage stellte, würde sie für die Kusinen und Vettern oben verneinen. Gewiss hatte der Stein allenfalls noch in Reichnähe des Jägers und des Artilleristen gelegen. Aber gar lang hätten sie die Arme recken müssen, um ihn zu nehmen. Beide hatten sich nicht gerührt. Auch sassen sie sicher im Schutz der Uniform. Als Offiziere galten sie frei von Schuld.
Sein Blick begegnete dem tief betrübten, todtraurigen der Nachbarin. Magda schien zu denken wie er. Nicht einmal um ihr Mut zuzusprechen, wagte er das Schweigen zu brechen. Doch mit warmem Mitleid kam ihm ein Gefühl der Zusammengehörigkeit. Auch das schöne Mädchen war rein von Schuld. Allein wäre er gern mit ihr, um den Kummer aus den Augen, lichtbraun wie das Gold Ostpreussens, zu bannen. Flüchtig streiften sie ihn jetzt und logen gewiss nicht, als sie sprachen: Wir waren es nicht! Das tat gut.
Die gnädige Tante brach das Schweigen. Von Magda und den Brüdern Güssow ungehört, hob sie die Lippen flüsternd zum Ohr des Bruders:
„Schickst du nicht nach der Polizei?“
Auf der Stirn unter den weissen Haaren schwoll die Ader.
„Soll der Schutzmann mir in die Taschen fassen?“
Sie tippte mit dem knochigen Zeigefinger auf die Platte. Ihre Augen streiften das untere Ende des Tisches:
„Nein, aber anderen Leuten.“
Er ballte die Faust. Mit Gewalt zwang er sich zu leisem Sprechen:
„Sie sitzen als Gäste an meinem Tisch.“
Es flackerte in ihren Augen. Sie senkte die Stimme noch mehr:
„Du fürchtest die Polizei, weil du weisst, dass jemand den Stein in der Tasche trägt!“
Da machte er laut seinem Zorn Lust und stiess die Fingerknöchel auf den Tisch:
„Ich weiss gar nichts. Lass deinen Stein vom Wirt suchen! Wird er nicht gefunden, musst du den Verlust verschmerzen!“
„Das könnte dir gefallen!“
Aus strengen Augen an den drei unten vorbeisehend, als wären sie ihres Blickes nicht mehr würdig, fragte sie den Artilleristen:
„Fritz, wo lag mein Stein zuletzt?“
Der Hauptmann hob den Kopf kaum. Eine fast wehmütige Trauer auf seinem Gesicht schien zu beklagen, dass so Grässliches unter Güssows geschehen könne:
„Ich weiss es nicht, Tante!“
Kurz sprach er. Wozu Worte machen? Der Stein war gestohlen.
Magda aber tippte mit dem Finger auf das Tischtuch:
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