Auch den alten Kolziner überraschte die Antwort, aber sie nahm ihm nichts von der Freude am Neffen. Eberhard hatte etwas gelernt, und war es auch nur Pillendrehen. Uebrigens trug er jetzt wieder den bunten Rock. Warum kam er nicht in Uniform?
Eberhard war von Magda die rechte Seite des Tisches hinaufgegangen. Nachdem er Fritz, den Artilleristen, und Adelheid, die Schwester des Jägers, begrüsst hatte, stand er wieder vor dem Alten und hörte ihn fragen:
„Warum trägst du Zivil?“
Wieder antwortete zunächst der kühle, ernste Blick und dann die selbstbewusst ruhige Stimme:
„Wer in die Uniform gehört, soll sie anlegen, Onkel Bernhard. Wer sie nur für Zeit trägt, um seine Pflicht und Schuldigkeit zu tun, hängt sie nach dem Dienst besser in den Schrank!“
Der Kolziner nickte, denn er war auch aktiv und Anno siebzig von der Partie gewesen. Fritz, der Artilleriehauptmann, legte von hinten die Hand mit leichtem Klopfen um des fremden Vetters Schulter. Eberhard spürte in der alten Heimat die erste verwandtschaftliche Geste.
Der Alte war noch nicht fertig:
„Jetzt weisst du, wie wir heissen. Dich nennen wir den Amerikaner.“
Ohne Lächeln sah Eberhard ihm in die Augen wie vorher: „Bitte nicht, Onkel Bernhard. Warum soll ich als Amerikaner gelten? Ich habe mich immer Deutscher gefühlt wie genannt und nie verstanden, warum Landsleute nach ein paar Jahren in China oder Afrika plötzlich zu ‚alten Chinesen‘ oder ‚Afrikanern‘ werden. Wer deutsch fühlt, muss das als Kränkung empfinden.“
Güssow-Kolzin fand nicht den Scherz, der ihm sonst stets über die Lippen kam. Ueberrascht verbeugte er sich sogar leicht. Ihm war, als habe er eine verdiente Belehrung empfangen, und dann schien es unbehaglich, dass er den Neffen an das untere Ende des Tisches weisen musste. Er entschuldigte sich:
„Wir sitzen, wie wir kamen. Ich als erster am Platz erfreue mich der Ehre, Tante Lottchen neben mir zu haben. Trotzdem“ — er konnte lachend wieder mit den Augen zwinkern und hob flüsternd den weissen Schnurrbart gegen des Neffen Ohr — „gönne ich dir deine Nachbarin.“
Eberhard ging um den Tisch auf seinen Platz. Dabei suchte der Blick die hellbraunen Augen der Nachbarin. Niedersitzend beugte er sich gegen sie:
„Sie sind, wie ich hörte, keine Güssow, gnädiges Fräulein. Darf ich fragen, welche Verwandtschaft uns die Freude Ihrer Gesellschaft verschafft?“
Sie lachte vergnügt. Des Zufalls Gunst schien ihr den besten Platz geschenkt zu haben. Der Reichstagsabgeordnete, ihr rechter Nachbar, verstand gut zu unterhalten und pflegte ihr den Hof zu machen. Zu ihrer Linken aber sass der ohne Zweifel interessanteste der Güssows. Nicht ernst wie vorher, sondern heiter blickte er, während sie antwortete:
„Gar keine Verwandtschaft. Ich bin nur die Gesellschafterin Ihrer Frau Tante!“
Sie hob die Augen zur alten Dame am oberen Ende des Tisches und sah den Barometer ihrer Mundwinkel fallen. Streng und vorwurfsvoll blickte Frau von Güssow zurück. Vielleicht war ihr nicht entgangen, dass sie an dem Amerikaner Gefallen fand. Er sah gut aus, schien jünger als seine Jahre und ungemein liebenswürdig. Wieder konnte er lachen, als er fragte: „Warum nur Gesellschafterin, gnädiges Fräulein? Hätte ich sagen sollen: nur Apotheker?“
„Ach nein, Herr von Güssow! Das meinte ich nicht.“ Sie war verlegen.
Der Reichstagsabgeordnete glaubte den seit zwanzig Jahren fast vergessenen Bruder rühmen und Magdas Aufmerksamkeit auf sich lenken zu müssen:
„Perlchen, eine grosse Apotheke ist nicht übel.“
Eberhards Blick war wieder ernst, fast abweisend. Der Reichstagsabgeordnete verstummte. Magda war es heute peinlich, dass er sie nach dem Brauch der Güssowschen Familie Perlchen genannt hatte. Ein Recht auf den Namen hatte überhaupt nur der alte Kolziner, der jetzt die hohle Hand an den Mund setzte und in seiner derben Art ein Signal blies, das wohl „Futtern“ heissen sollte. Zwei Kellner setzten Austernschüsseln auf den Tisch. Zur Gabel greifend rief der alte Herr launig:
„Wer wird eine Perle finden?“
Seine lustigen Augen zwinkerten von Eberhard zu Magda, die sich erröten fühlte. Vom anderen Ende des Tisches glaubte die gnädige Tante mit strenger Stimme den Scherz seiner Bedeutung entkleiden zu müssen:
„Vorkommen soll es, aber ich habe es noch nicht erlebt!“
Der Kolziner nickte:
„Glaube ich, Lottchen. Du schluckst sie schnell ’runter, damit du genug kriegst. Kauen muss die Auster, wer Perlen finden will.“
Sie drehte ihm die linke Schulter zu und das Gesicht zur Kusine Lindberg:
„Er wird immer schlimmer. Wer mit ihm ausgeht, bereut es!“
Eberhard hatte zugehört. Auch er pflegte Austern zu verschlucken oder zu trinken. Heute wollte er sie kauen. Während er die erste auf die Gabel nahm, sah er den Bruder wieder auf Fräulein Mehrhofer einsprechen. Schon früher hatte Karl als Damenmann gegolten. Kein Wunder, dass er das fröhliche Lachen des hübschen jungen Mädchens weckte. Nein, nicht hübsch, sondern wirklich schön war der Tante Gesellschafterin mit den schmalen Wangen, unter deren feiner Haut gesundes junges Blut nach aussen drängte. Ihre schlanke Figur musste fast von der Höhe der eigenen sein. —
Zwei Austern lagen noch unberührt auf seinem Teller. Eine dritte wollte er eben verschlucken. Da spürte er zwischen den Zähnen Hartes und lachte. Magda drehte ihm das Gesicht zu, denn er fragte vergnügt:
„Darf ich sie aus dem Mund holen?“
Da begriff sie, dass er eine Perle — vielleicht eine ganz grosse — gefunden hatte! Welch Glückspilz und wie interessant! Sie wendete den Kopf ab und lachte:
„Ich sehe nicht hin!“
„Hier ist sie!“ rief er und legte ein rundes weisses Kügelchen auf das Tischtuch. Schnell beugte sie sich darüber:
„Es glänzt aber nicht wie eine Perle.“
In der Tat glänzte die Kugel nicht. Eberhard nahm ein kleines Taschenmesser aus der Weste und kratzte mit der Schneide die weisse Kruste von dem Kügelchen. Die Verwandten sahen flüchtig hin, aber glaubten nicht, er habe eine Perle gefunden. Er wollte wohl mit Magda scherzen. Nur Karl, sein Bruder, reckte den Hals. Eberhard war ein Duselmeier. Natürlich gab er die Perle Magda, um sich bei dem schönen Kind einzuschmeicheln. Doch der Hauptmann klopfte dem Reichstagsabgeordneten auf die Schulter:
„Windhund“ — so hiess der Reichstagsabgeordnete nicht nur wegen seiner Schlankheit in der Familie — „gib die Gläser herauf!“
Da die Kellner schon den Fisch reichten, war es Zeit zum Einschenken. Der Artillerist hob eine Flasche aus dem Eiskübel.
„Doch kein Franzose?“ fragte M. d. R. Der Hauptmann lachte:
„Solange wir pommerschen Greno und deutschen Geldermann haben, trinken wir keine Franzosen. Ist übrigens hiesiger.“
Befriedigt glättete M. d. R. mit einem Griff in die Knöpfe das schwarze Tuch seines Gehrocks, des Rocks des Staatsmannes:
„Ich trinke ganz gern französischen, aber die Quallen wollen es nicht.“
Hauptmann Fritz lachte wieder. „Quallen“ nannte der Windhund die Wähler, denn sie hatten wohl viele Arme, aber waren doch wehrlos und stumm. Sie konnten nicht beissen. Trotzdem lebte Karl in ewiger Scheu vor ihnen und meinte jetzt, man könne nie wissen, ob nebenan eine sässe oder der Kellner klatsche.
Eberhard hatte die Perle geputzt und liess sie unter dem Zeigefinger auf dem Tischtuch rollen. Dann hob er wieder vergnügte Augen zu Magda: „Die Perle der Perle“
Eigentlich hatte auch er kein Recht auf den Namen, aber aus seinem Mund verletzte er nicht. Sie tat, als habe sie nicht alles gehört.
„Wie eine echte sieht sie nicht aus:
Sie nahm die winzige Kugel, zeigte sie dem Reichstagsabgeordneten, legte sie dann auf einen Teller und reichte ihn dem Jäger zur Linken Eberhards. Der Leutnant verstand die Aufforderung, gab die Perle schnell weiter an Frau von Lindberg und machte sich über den Fisch. Seezungen waren zum Essen, aber Perlen nur zum Ansehen. Frau von Lindberg griff zögernd nach dem Teller. Sie argwöhnte einen Scherz des fremden Vetters, denn aus Amerika kam ausser Munition nur Humbug. Darum konnte die Perle nicht echt sein. Das meinte auch der Geheimrat. Die gnädige Tante strafte Magda und Eberhard gar mit einem zürnenden Blick. Der Barometer ihres Mundes fiel. Die jungen Leute wollten sie zum besten haben.
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