Die weisse Staubwolke auf der Strasse näherte sich viel geschwinder als die anderen Wagen bisher. Sie schoss dahin. Zwei galoppierende Gäule, rechts und links, rissen mit auswärts gestellten Köpfen das leichte Gefährt über Steine und Löcher. Zwischen ihnen schnellte ein Orloff-Rappe die Vorderbeine in unwahrscheinlich flinkem, scheinbar mühelosem Trab. Sein langer, seidener Schweif flog. Der graue Wotansbart des Kutschers, wehte. Der Kranz von Pfauenfedern auf feiner Mütze flatterte. Breithüftig, unförmlich auswattiert lenkte der alte Russe, auf dem Bock vorgebeugt, mit abgespreizten Ellbogen, die sausende Troika haarscharf um die Krümmung der Vorfahrt und brachte sie mit einem unsichtbaren Ruck zum Stehen. Der finstere riesige Leib-Tscherkesse in kaukasischer Tracht, der neben dem Kuticher sass, sprang vom Bock. Die Dienerschaft stürzte heraus. Je vornehmer der Gast, desto wilder, nach russischem Brauch, die Beflissenheit. Aristide Murussi fühlte den langen, weissleinenen Staubmantel und die weisse Schirmkappe weggerissen. Zwei Stubenmädchen knieten rechts und links und wedelten mit dem Flederwisch die bestaubten Lackschuhe blank. Ein Greis hockte und bürstete den Staub von den glockenförmig weiten Beinkleidern, die ebenso wie der lange, scharf in die Taille geschnittene Glockenrock ein eigentümliches, sterbendes Violett zeigten. Ein Tatar haschte nach den Handschuhen. Der schwäbisch-russische Diener öffnete feierlich die Türe und liess den ungekrönten Steppenkönig eintreten.
Murussi lächelte dabei schüchtern und unsicher. Er war immer etwas verlegen. Er blieb so bescheiden an der Schwelle stehen, als sei er der Hauslehrer. Er legte mit einer leichten, fast frauenhaften Anmut, den Kopf ein wenig auf die Seite, während er sich, befangen wie ein junges Mädchen unter fremden Blicken, gegen die Anwesenden verneigte. Er hatte eine schmächtige, zierliche Gestalt. Auffallend kleine Hände und Füsse. Sein Gesicht besass die gelbliche blutleere Farbe, die klassische, tote Regelmässigkeit, die schönen grossen dunklen Glasaugen der Wachsköpfe in den Schaufenstern der Haarkräusler. Er trug einen kleinen aufgedrehten schwarzen Schnurrbart über dem weichen kleinen Mund, und das glänzend schwarze, fest anliegende Haar nach Lämmchenart in der Mitte gescheitelt.
Er näherte sich schweigend und ehrerbietig Madame Gebauer und führte ihre Rechte an seine Lippen. Er begrüsste ebenso stumm und respektvoll die anderen Damen. Er ging herum und schüttelte jedem der Herrn angelegentlich und heftig die Hand — auch denen, die er noch gar nicht kannte, — so wie ein weltfremder Prinz, den man gelehrt hat, gegen jedermann leutselig zu sein und niemanden durch Übersehen zu kränken. Dann reichte er schwach lächelnd Katja Gebauer den Arm zu Tisch.
Auch hier sprach er nur spärlich und leise ein paar alltägliche Worte. Der Staub . . . Das neue Variété-Programm in der Sobranje — Das Konzert im Alexanderpark — die Wärme des Meerwassers. Der jüngste Makrî, der still in seiner grünen Gymnasiasten-Uniform unten am Tisch futterte, hätte es ebenso gut äussern können. Wenn man Aristide Murussi näher ansah, merkte man, dass er gelebt hatte. Es waren blaue Schatten des nächtlichen Spielers unter den Augen, seine Linien an den Schläfen des Fünfunddreissigjährigen. Das Haar am Wirbel zu einer Pariser Tonsur gelichtet. Auch sein schnelles, lispelndes Französisch war ein Echo der Boulevards.
„Man verschickt mich morgen nach Sibirien, Maurice!“ sagte er, auf eine Frage des jungen Sinai. „Ich muss auf mehrere Wochen in das Donez-Becken — vielleicht noch weiter . . . bis an den Don.“
„Was machst du denn da, mein Kleiner?“
„Es ist der reine Jahrmarkt da unten — eine Menagerie“, schrie der junge Malbasá über den Tisch. „Kosaken — Armenier — Schwaben — Herrenhuter — Tataren — Tschinowniks — Mennoniten — Dromedare — wilde Hunde — Katzerlaken — Flöhe . . . Fahre lieber nach Paris!“
„Man verlangt mich jedoch im Osten, Pauluscha.“ Der Krösus sprach es unruhig und scheu und schaute dabei unsicher seitwärts, nach dem Fenster. „Es sind da diese Bergwerke . . . die vielen Fabriken . . . die Ländereien . . . Es wurde die neue Bank gegründet . . . Ich bin jahrelang nicht dort gewesen . . . Diese Direktoren sind unbequem. Sie verlangen, dass ich mich einmal zeige . . . besichtige . . Unterschriften leiste . . . Was willst du machen? . . . Ich bin in der Hand dieser Franzosen und Deutschen und Engländer . . .“
Aristide Murussi brach ab und blickte auf das Tischtuch, in der offenbaren Reue, schon zu viel von seinen Reichtümern geredet zu haben, obwohl an der ganzen Tafel um ihn herum ausnahmslos wenigstens einfache Rubel-Millionäre sassen. Einer von ihnen, der Deutsch-Russe Wollbaum, ein grosser, ruhiger Mann mit dem Sonnenbraun des eifrigen Sumpf- und Steppen-Jägers meinte:
„Es ist ein wahrer Segen, wenn Sie einmal nach dem Rechten sehen und nicht immer im Ausland leben! Man bestiehlt Sie notwendig an allen Ecken und Enden, Murussi!“
„Dazu ist er doch auf der Welt!“ rief die schöne Madame Kobeko mit ihrem naivsten rehäugigen Unschuldsgesicht. Sie konnte sich diese Offenherzigkeit erlauben. Sie galt für seine letzte Geliebte. Und in dem zustimmenden Schweigen umher lag etwas wie ein allgemeines Einverständnis, dass Aristide Murussi einer der unnützesten Kostgänger Gottes sei — selbst an dem Massstab einer halben Levantestadt wie Odessa gemessen. Die hübsche Presnjakowa beugte sich über den Tisch vor und zeigte ihre weissen Zähne.
„Verteidigen Sie sich doch, Herr Murussi!“ lachte sie in ihrem russisch gefärbten Französisch. „Reden Sie! Man wartet! Warum sprechen Sie nicht mit Katja? Katia sitzt neben Ihnen!“
„Katja ist selber stumm wie ein Seebutt!“
„Katja denkt an ihren Sohn!“ verkündete Mademoiselle Sinai. „Sie hat nämlich einen Sohn!“
„Fräulein Sinai — Ich möchte doch bitten . .“, sagte der alte Gebauer trocken. Ausser ihm fand niemand etwas an dem Scherz.
„Jawohl! Einen bereits neunzehnjährigen Sohn! Sascha Kersting in Lyon! Was? Sie wäre seine Cousine? Nein! Sie ist seine Mutter! Er darf nichts ohne ihre Erlaubnis tun! Er darf keine Geliebte haben — der arme Junge . .“
„Natürlich darf er!“ Katja Gebauer zündete sich zwischen zwei Gängen eine Papyros an und rauchte. „Er soll sogar! Er soll sich nur die Hörner ablaufen! Er hat schon zwei, wie es scheint, ganz reizende, kleine französische Frauen gehabt!“
„Du bist gut!“ rief die Kobeko sittlich entrüstet. „Und du selber? Hast du einen Geliebten? Nein! Sie hat keinen! Hatte nie einen! Andere aber . . .“
„. . . Bloss heiraten soll er nicht!“ Katja blies den Rauch durch die feinen Nasenflügel. „Denn das ist Unsinn!“
„Heiraten ist Unsinn?“ Die Damen schrieen und lachten. Aristide Murussi sass schwermütig und schweigend, mit einem weichen leidenden Gesichtsausdruck. Natalie Kobeko tauchte den rosigen kleinen Finger in ihren Champagnerkelch und spritzte Katia ein paar Sektperlen ins Antlitz.
„Warte nur, du Nonne!“ meinte sie dabei augenzwinkernd. „Auch Sebastopel musste schliesslich kapitulieren!“
Katja wischte sich zerstreut die eisigen Tropfen von der Wange und tat, als hörte sie nicht auf die Klein-Russin, sondern auf die alten Herren oben am Tisch, die sich über die unhaltbaren Zustände in einem der Schwarze-Meer-Häfen unterhielten. Cherson oder Batum oder . . . kurz: es gab da einen zweiten Zolldirektor, einen Balten, der nicht stahl! Einfach nicht stahl. Er liess sich nicht bestechen. Man konnte sich nicht mit ihm einrichten . . . Er störte direkt das Geschäft . . .
„Aber so sind diese Deutschen!“
„Wir werden noch auf reichsdeutsche Zustände kommen!“ sagte, sich mit den anderen vom Tisch erhebend, der Grossindustrielle Makrî, schwarz wie ein Neapolitaner, ein auffallend hässlicher Mann. „Nun — wie ist es mit einer Partie Billard?“
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