„Lieben Sie auch dies militärische Schauspiel?“
„Nein, mein Herr. Denn mein Vater liebt es nicht. Er sagt: Parade ist Krieg im Frieden! Und Krieg stört das Geschäft!“
„Ah — da erkennt man Euch Marseiller!“ rief erbost der Deputierte Touchant, der es gehört hatte. „Gerade so sprach vorhin Monsieur Sascha von seiner russischen Heimat. Ihr Seehändler seid alle gleich! Odessa und Marseille — das reimt sich. . .“
Es war ein bedeutungsvolles Schweigen umher. Zum Glück schmetterten eben, lichtblau vorbeireitend, mit gelben Helmen die Dragoner. Sascha versenkte sich andächtig in das stille, atmende Klosterbild vor ihm. Süsse, kleine Madonna . . . . So unberührt . . . Ein frommes Kind . . . .
„Nun kehren Sie wieder nach Marseille zurück?“ fragte er leise und traurig.
„Heute abend noch! Kennen Sie Marseille? Nein? So nahe und nie dort? Warum denn nicht?“
„Ich wusste ja nicht, dass Sie dort wohnen!“
Die Kleine schaute ihn unschuldig und fragend an, als verstände sie ihn nicht. Dann plauderte sie lebhaft weiter:
„Oh — Marseille ist schön! Nicht still wie Lyon! Die Strassen voll Menschen! Alle Menschen sind heiter. Sie lachen! Sie lärmen! Hören Sie nur Papa!“ In der Tat! Die Stimme des alten Nezot dröhnte drüben so laut über den Platz, als befehlige er ein Treffen der Parade. „Man hat in Marseille das Meer, mein Herr — die Schiffe — Man fährt über den Sonntag nach Algier hinüber, wenn man will . . .“
„Ich werde nächstens mal nach Marseille kommen!“ entschied Sascha.
„Das wird meine Eltern gewiss freuen!“ sagte das junge Kind sittig mit seiner sanften, klaren Stimme.
„Und Sie, Fräulein Françoise?“
Die kleine Klosterfrau lächelte nur zur Antwort. Zum ersten Mal waren da ein paar Grübchen von Mutwillen in den feinen Zügen. Dann streckte sie die zarten zehn Fingerchen aus und wich erschrocken, mit einem halben Aufschrei zurück, sodass sie beide sich berührten. ,,Oh Gott — Man wird uns doch nicht hier über den Haufen galoppieren!“
„Keine Sorge!“ Sascha Kersting benutzte die Gelegenheit. Er schlang in dem Aufschrei und der Flucht umher, den Arm um sie, und hielt sie schützend fest. Françoise Nezot schmiegte sich, mit halboffenem, rotem Mund, wie ein gescheuchtes Schäfchen an seine Brust. Niemand achtete auf die Zwei. Der Donner kam heran und brauste haarscharf an den Zuschauern vorüber. Die siebenten und zehnten Kürassiere ritten das grosse Schlussund Schaustück der Parade. Die Attacke in Karriere. Die Hufe dröhnten, die Helmkämme flatterten. Dann gellten alle Trompeten: Halt! Die Reiterwogen standen in langen, schimmernden Linien. Gerührtes Händeklatschen. Man brach auf. Sascha Kersting gab der kleinen Françoise träumerisch die Hand. Sie nahm sie sittig, mit einer leisen Abwehr, als habe sein Lächeln ihren Klosterfrieden versengt. Auf ihrem weissen, unbeschriebenen Gesicht wohnte der tiefe unschuldige Ernst eines Kindes. Er dachte sich: Es ist wahrhaftig eine kleine Heilige. Zugleich scheute neben ihnen das Pferd eines Wachtmeisters. Der Reiter plumpste zu Boden. Er tat sich nichts. Aber es sah komisch aus, wie der dicke Krieger verdutzt dasitzend um sich starrte.
Und sie — die kleine Françoise — platzte mit den Anderen heraus. Lachte, wie nur eine Sechzehnjährige lachen kann. Bog sich vor Heiterkeit. Der übermut sprühte aus ihren Augen. Die frommen Lippen kicherten. Das spitzbübische Gesichtchen zuckte vor Entzücken. Und nun, wo aus dem Klosterschrein ein reizendes kleines Weib heraustrat und dies heilige Kind sich zu Blut und Leben wandelte, war es für Sascha Kersting ein Schicksals-Augenblick, und es wurde ihm eng und weit ums Herz, und er stieg wie ein Nachtwandler am Mittag zu den de Noutz in den grossen Familien-Landauer.
Und in seiner Eckstube oben in Lyon kritzelte er heftig als Schluss des Briefs an die Cousine in Odessa:
„Eben komme ich von der Soldatenspielerei zurück. Du — Katja — das ist eine schöne Geschichte! Also ich bin drum und dran, mich in diese junge Françoise zu verlieben! Wenn Du sie sähst, würdest Du meine Ekstase begreifen! Das alles — bei Françoise — ist noch ein holdes Wunder der Zukunft. Das Alles hat sich noch nicht erschlossen. Diese kleine Seele träumt noch. Diese zarte Knospe ist noch eingerollt in Winterfrost — Werde ich nicht ganz poetisch? — Das Alles ist noch nicht — das wird erst — das ahnt erst — das verspricht — das will zum Licht — zu mir! . . Ja! — Ja! . . Ich gefalle ihr. Ich weiss es — Ich sah es an ihren sanften Augen . . .
Der Erste zu sein — auch geistig — einer Frau — Sie aus dem Pflanzenstand zum freien Menschentum emporzuführen — Oh — mon amie — sodass solch holdes Geschöpf dies zweite Leben unsereinem verdankt — ganz ein Werk meiner Hände — von mir geformt — mein Eigentum im schönsten Sinn . . . Wer könnte sich eines solchen unberührten Schatzes rühmen? Ich schliesse. Ich sehe schon Dein gewisses Lächeln. — Hélas! — Ich kenne Dich, Katja! Lies diesen Brief. Oder lies ihn nicht. Mache daraus, was Du willst. Dieser Brief gehört Dir. Dir muss ich alles schreiben, liebe kleine Mama! In diesem Brief fliegt meine Seele auf einen Sprung zu Dir nach Odessa. Nimm sie gut auf! Ewig Dein Sascha!“
Der junge Deutsch-Russe rannte die sechs Stockwerke hinunter und warf den Brief an Katja Gebauer selbst in den Kasten. Das Schreiben nahm seinen Weg gen Osten. Es war ein glühend heisser bessarabischer Maitag, als der Postsack, in dem es reiste, in Odessa eintraf.
Die, an die es gerichtet war, schwamm gerade in dieser Vormittagsstunde weit draussen vor der Stadt am Villenstrand im Schwarzen Meer, zusammen mit ihren Cousinen, den beiden Malbasá, der Presnjakowa, Fräulein Wollbaum, Mademoiselle Makri, Natalie Kobeko. Es war wie eine Herde grosser farbiger Fische — Goldfische alle — Töchter der internationalen Finanz von Odessa, die sich da schwimmend, spritzend und lachend tummelten. Katja Gebauer trug einen purpurnen Badeanzug mit purpurner Kappe. Er leuchtete aus dem tiefen Blau der Wogen. Dazu das Weiss der Arme und der Füsse. Man konnte die Glieder ruhig aus dem Wasser heben. Das Nass des Schwarzen Meers war so schwer, so salzgesättigt, dass es elastisch den Körper trug, wenn man windgeschaukelt auf dem Rücken liegend, über sich den stürmenden weissen Wölkchenflug am blassblauen Himmel sah. Katja Gebauer’s schönes, längliches, bräunliches Gesicht blinzelte träumerisch in den Schaumkämmen, als läge sie im Bett. Weisse Möven schrieen klagend über ihr. Abwechselnd stieg und schwand im Spiel der Wellen die nahe niedere Küste und wuchsen und sanken draussen, fern am Horizont, die schwarzqualmenden Schlote einiger grosser Dampfer. Eine Herde Delphine schnitt mit dunklen Kämmen in pfeilschnellem Tauchschwung durch die Fluten.
Ein Schwall Seewasser sprühte Katja in das selbstvergessen an Licht, Luft, Sonne, Sein hingegebene Antlitz. Sie prustete, leckte sich das Salz von den Lippen, hob die dunklen, glänzenden Augen: drüben schnalzten noch ausgelassen die Schweinsfische und überschlugen sich triefend in der Luft. Aber die menschlichen Tummler hatten das Ufer aufgesucht. Vor den Badehüttchen, von denen Holztreppen zu den Gärten der einzelnen Choutors, der Sommer-Landsitze der Grosskaufmannschaft, hinaufführten, leuchteten farbige Punkte.
Katja schwamm der Küste zu, landete vorsichtig, um nicht vom Prall der Brandung an eine der kleinen Klippen unter Wasser geworfen zu werden, und stieg ein paar Minuten später mit ihrer Freundin, der geschiedenen Kobeko, zum Akazien- und Tamariskenpark des Choutor’s Gebauer empor. Die beiden Damen trugen Strohschuhe und hatten lange Bademäntel umgeworfen. Es lohnte sich nicht, sich umzuziehen, für den kurzen Weg. Man musste zuhause ja doch gleich nach dem Seebad in eine Wanne voll Süsswasser steigen, um die prickelnde Salzkruste auf der Haut abzuspülen.
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