Marie Louise Fischer
Roman
Saga Egmont
Kinderstation
Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof Forlag A/S
Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, ( www.marielouisefischer.de)
represented by AVA international GmbH, Germany ( www.ava-international.de)
Originally published 1962 by Hestia Verlag, Germany
All rights reserved
ISBN: 9788711718988
1. Ebook-Auflage, 2017
Format: EPUB 3.0
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Sie waren alle in heiterster Stimmung. Auf der Terrasse schaukelten die bunten Lampions wie leuchtende Bälle im Nachtwind. Lachen und Musikfetzen klangen zu dem Mann am Brunnen herüber.
Die Fröhlichste von allen war Regine. Unermüdlich flatterte sie zwischen ihren Gästen hin und her. Ihr korallenrotes Kleid hob sich von den pastellfarbenen Roben der anderen Frauen ab. Ihr dunkles Lachen klang wie ein melodisches Glockenspiel.
Präg es dir ein, sprach Dr. Arno Vogel zu sich selbst. Vergiß es nie, alter Junge! Dies ist eine glückliche Stunde, eine deiner vielen glücklichen Stunden, seit du mit Regine verheiratet bist. Sei dankbar, genieße es!
Er hockte, in einiger Entfernung von den anderen, auf dem Brunnenrand und rauchte seine Pfeife. Er war nicht allein.
Neben ihm, in einem Korbsessel, saß sein Schwiegervater Professor Paul Böhninger. Hier war es so dunkel, daß sie sich kaum sehen konnten.
Es war schön, Regine und ihre Gäste von weitem zu betrachten, und es war angenehm, nicht mitmachen zu müssen.
Plötzlich wurde Arno Vogel sich dieser Distanzierung mit einem kleinen Schuldgefühl bewußt. Hatte Regine nicht ein Recht darauf, ihn, den Hausherrn an ihrer Seite zu haben? Gerade an diesem Abend, bei ihrer lang vorbereiteten, heiß ersehnten »Garden Party«?
»Ich glaube, ich sollte doch lieber …«, sagte er zögernd.
Professor Böhninger begriff sofort. »Mach dir nichts draus«, sagte er munter, »Regine hat ja gewußt, daß sie keinen Salonlöwen heiratet.«
»Stimmt auch wieder.« Arno Vogel warf seinem Schwiegervater einen dankbaren Blick zu. Es schien ihm, als wenn der alte Herr in der Dunkelheit lächelte.
Sie tranken sich zu und spürten, wie gut sie sich verstanden.
Der laue Wind, der die Haut wie mit zärtlichem Streicheln berührte, die bunten Lichter, die fröhlichen Stimmen, Gläserklirren, Gelächter und Musik … bedeutungslose Kleinigkeiten. Aber sie machten den Chefarzt Dr. Arno Vogel fast trunken vor Glück.
Er besaß alles, was ein Mann sich nur wünschen kann, und er war sich seines Erfolges bewußt.
Als Regine über den Rasen auf ihn zugewirbelt kam, war er erfüllt von der Heftigkeit und Zärtlichkeit seiner Liebe.
Regine hatte die Pumps abgestreift. Ihr duftiger Rock gab im Laufen die schmalen braunen Knie frei, ihre Füße schienen den Rasen kaum zu berühren.
»Nicht zu glauben!« sagte Professor Böhninger.
Dr. Arno Vogel verstand auch ohne weitere Erklärung, was sein Schwiegervater meinte. Regine wirkte rührend jung. Niemand hätte ihr, wie sie da langbeinig und anmutig über den Rasen rannte, auch nur einen Tag mehr gegeben als achtzehn Jahre. Tatsächlich war sie heute fünfundzwanzig Jahre geworden, sie, die Mutter einer vierjährigen Tochter.
Er stand auf, bevor sie bei ihm war. Er hätte sie gern in die Arme genommen, tat es aber nicht, weil er wußte, daß sie Zärtlichkeiten in der Öffentlichkeit nicht liebte.
»Na, was gibt’s?« fragte er. Seine Stimme klang rauh von der Anstrengung, seine Gefühle unterdrücken zu müssen.
»Ein Anruf für dich, Arno. Aus der Klinik!«
»Danke, Regine … entschuldige mich einen Augenblick, Papa!« Dr. Arno Vogel klopfte seine Pfeife aus, ging mit großen Schritten, doch ohne Hast, zum Haus hinüber.
Ein Anruf aus der Klinik hatte für ihn nichts Alarmierendes. Er liebte es, ständig in enger Verbindung zum Krankenhaus und zu seinen kleinen Patienten zu stehen. Ärzte und Pflegepersonal scheuten sich nicht, ihn bei jeder auftretenden Schwierigkeit zu Rate zu ziehen.
Dennoch ging er jetzt die bedrohlichen Fälle seiner kleinen Patienten durch und versuchte herauszubekommen, bei wem es wohl zu einer Störung oder gar einer Krisis gekommen sein konnte.
Bei dem kleinen Peter mit dem Brechdurchfall?
Der zwölfjährigen Lisa, die vor zwei Tagen mit einer schweren Diphtherie eingeliefert worden war?
Oder sollte etwa Herbert wieder, eine Möglichkeit gefunden haben, sich seine Verbände abzureißen?
Dr. Arno Vogel nickte seinen Gästen, meist Kollegen und deren Frauen, beim Überqueren der Terrasse zu, trat durch das große Wohnzimmer in die Diele, nahm den Hörer auf, der neben dem Apparat auf dem Tischchen lag.
»Hallo?« sagte er. »Eichner? Entschuldigen Sie, wenn ich Sie habe warten lassen, aber Sie werden sich vorstellen können …« Er führte den Satz nicht zu Ende, fragte statt dessen: »Was gibt es?«
»Eine Erythroblastose, Herr Chefarzt. Ist heute aus der Frauenklinik zu uns gekommen.«
»Wie alt?«
»Zwanzig Stunden.«
Während er zuhörte, klopfte Dr. Vogel sich nachdenklich mit dem Pfeifenstiel gegen die Zähne. »Bilirubin?«
»Zwanzig Milligrammprozent«
»Dann müssen wir sofort etwas unternehmen. Ich komme gleich hinüber.«
»Jawohl, Herr Chefarzt …«
»Augenblick … sind Sie noch da? Ja? Haben Sie schon die Blutgruppe?«
»Null Rhesus-positiv.«
»Das Blut der Mutter?«
»Null rh-negativ.«
»Aha. Dann veranlassen Sie bitte sofort, daß uns die Blutspenderzentrale zwei Leute schickt, ja? Je schneller, desto besser!«
Arno Vogel hing auf. Er wandte sich zur Haustür.
»Mußt du fort?«
Erst jetzt sah er, daß Regine ihm nachgekommen war.
»Leider«, sagte er und sah sie zärtlich an, »ihr müßt ohne mich weiterfeiern.«
»Schade.«
»An mir verlierst du nicht viel, fürchte ich. Du weißt, ich bin ein miserabler Tänzer.«
»Trotzdem.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihn zu küssen.
»Leb wohl!« sagte er.
»Tschau!« Strahlend schön, in einem Wirbel von leuchtend rotem Chiffon, stand sie eine Sekunde an der Schwelle. Dann war sie verschwunden.
Dr. Vogel öffnete die Haustür und trat auf die nächtliche Straße.
Die Kinderklinik lag jenseits des Parks, kaum drei Minuten von Dr. Vogels Haus entfernt, ein graues Sandsteingebäude. Es sah genauso aus wie die anderen Universitätskrankenhäuser, in deren Mitte es stand. Wie die andern roch es nach Linoleum, Bohnerwachs und Desinfektionsmittel. Die Gänge lagen jetzt, um Mitternacht, wie ausgestorben da, grau vom Nachtlicht beleuchtet.
Nur im Operationssaal brannten alle Lampen und erfüllten den Raum bis in den letzten Winkel mit ihrem kalten, grellen Licht. Schwester Marina sah auf, als Dr. Eichner eintrat. Er strich sich nervös über den Schnurrbart, sah sie fragend an, flackernde Unruhe in den dunklen, schräg geschnittenen Augen.
»Alles in Ordnung, Herr Doktor«, sagte Schwester Marina.
Vor ihr auf dem Tisch lag in einem Körbchen, links und rechts von Wärmflaschen umgeben, das Neugeborene und schlief mit seltsam verzogenem Gesicht. Die Gelbfärbung der Haut wurde im scharfen Licht besonders deutlich.
»Eine sehr unangenehme Sache!« Dr. Eichner räusperte sich. »Wirklich, sehr unangenehm.«
Schwester Marina schwieg, den Blick auf das schlafende Kind gerichtet.
Dr. Eichner sah auf seine goldene Armbanduhr. »Ich denke, ich werde …«, begann er. Aber dann brach er ab und sagte: »Sie wissen, was Sie zu tun haben, Schwester … lassen Sie das Kind keine Sekunde aus den Augen!«
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