»Unser Direktor, Professor Ramsauer, kommt ja erst Ende der Woche zurück«, hörte er Dr. Eichner wie aus weiter Ferne sagen. »Sie werden es selber Dr. Hagemann erklären müssen.«
»Das ist nun wirklich das wenigste.«
»Was sagen Sie? Ich für meinen Teil möchte nicht in Ihrer Haut stecken.«
Dr. Vogel antwortete nicht. Er stand bewegungslos da. Was ist hier geschehen … hat jemand von uns versagt? dachte er.
»Gute Nacht«, sagte Dr. Eichner. »Ich nehme an, daß ich nicht mehr gebraucht werde?«
»Gute Nacht, Herr Doktor«, sagte Schwester Marina gepreßt.
Die Schwester räumte die Instrumente fort. Sie stand mit dem Rücken zum Chefarzt. Ihre Schultern zuckten.
Dr. Vogel war sich kaum ihrer Anwesenheit bewußt. Er trat an das Tischchen, auf dem die Präparate gelegen hatten, sah die leere Ampulle. Sie war nicht gekennzeichnet, anscheinend einer Klinikpackung entnommen. Er hielt sie gegen das Licht, sie enthielt noch einen Rest durchsichtiger Flüssigkeit. Er drückte den Daumen auf die Öffnung der Ampulle.
Dann verließ er grußlos den Raum.
Professor Böhninger saß weit zurückgelehnt in seinem lederbezogenen Sessel hinter dem mächtigen Schreibtisch und sah seinen Schwiegersohn freundlich-spöttisch an. Es war am Morgen nach der Party.
»Na, wo brennt’s denn?« fragte er lächelnd.
Dr. Vogel beugte sich vor, die Hände um die Knäufe der Sessellehne geballt, und sagte mühsam: »Wir hatten gestern nacht eine Blutaustauschtransfusion an einem Neugeborenen —«
»Ja?« fragte der Professor.
»Exitus.«
Einen Augenblick lang herrschte Schweigen.
Dann sagte der Professor: »Das tut mir leid, Arno.« Er öffnete ein silbernes Döschen, steckte sich eine Pfefferminzpastille in den Mund. »War es das Kind von Evelyn Hagemann?«
»Du weißt … ?«
»Ich bin in großen Zügen unterrichtet. Gestern abend sprach ich mit dem Kollegen Bayer, der die Entbindung durchgeführt hat. Eine schwere Operation mit weitgehenden Konsequenzen. Aber anscheinend hatte Bayer keine Wahl. Immerhin … die Frau lebt.«
»Sie wird keine Kinder mehr haben können?«
»Ist es das, was dir zu schaffen macht? Oder daß es ausgerechnet mit dem Kind von Hagemann passiert ist? Der Tod nimmt keine Rücksicht auf Geburt und Stellung eines Menschen.«
»Dieses Kind«, sagte Dr. Vogel gedehnt, »hätte nicht sterben müssen.«
Professor Böhninger hob die dünnen weißen Augenbrauen. »Ich fürchte, ich verstehe dich nicht.«
»Bitte, glaube nicht, daß ich mir etwas einrede. Einen unbestimmten Verdacht würde ich niemals aussprechen … nicht einmal dir gegenüber. Ich weiß, was ich sage, ich habe den Beweis.« Er holte seine Brieftasche aus dem Rock, nahm ein kleines Schriftstück heraus, reichte es dem Professor über den Schreibtisch.
»Du hast eine Analyse im Labor machen lassen?« sagte der Professor unbehaglich berührt.
»In der Ampulle war noch ein kleiner Rest, ich fürchtete schon, daß er nicht ausreichen würde. Aber, bitte, lies selber.«
Der Professor überflog das Schriftstück mit zusammengezogenen Augenbrauen, sagte: »Gradiren ja, aber … das kann man doch nicht einem Neugeborenen geben.«
»Ich hatte natürlich Lobelin verlangt.«
Professor Böhninger strich sich nachdenklich mit dem Zeigefinger über den Nasenflügel. »Wer hat dir die Spritze gegeben?«
Dr. Vogel holte tief Atem. »Ich kann mich nicht daran erinnern, Vielleicht habe ich es auch gar nicht gesehen! Ich hatte nur Augen für das Kind. Die Atmung hatte ausgesetzt, es wurde deutlich zyanotisch. Ich verlangte Lobelin, jemand gab mir die Spritze in die Hand. Natürlich erwartete ich, daß die Atmung wieder einsetzen würde … statt dessen Krampf, Versteifung, Exitus.«
Er beugte sich vor. »Sag mir jetzt nur nicht, daß es vielleicht auch sonst gestorben wäre. Es war ein tadelloses Kind. Ich habe es gründlich untersucht. Herz, Lunge, alles in Ordnung. Der Blutaustausch hätte gelingen müssen. Statt dessen …« Seine Stimme brach ab.
Der Professor erhob sich. »Was willst du tun?«
»Ich weiß es noch nicht.«
»Arno!« Professor Böhninger ging um den Schreibtisch herum und auf Dr. Vogel zu. »Du willst Anzeige erstatten …«
»Anzeige … nein, das nicht. Das einzige, was ich will, ist eine interne Untersuchung.«
»Bildest du dir wirklich ein, daß so etwas intern bleiben kann?«
»Warum nicht? Jeder, der in den Fall verwickelt ist, kann nur das größte Interesse daran haben, nach außen zu schweigen.«
»Das glaubst du? Darf ich fragen … wer war überhaupt mit dir im OP?«
»Schwester Marina und Eichner.«
»Zuverlässige Leute.«
»Ja, ich weiß. Trotzdem muß sich einer von beiden geirrt haben. Oder glaubst du etwa, ich hätte … ?«
»Ich nehme nichts dergleichen an. Aber wenn du schon davon sprichst … siehst du denn nicht, daß du im Begriff stehst, dich ganz unnötig zu exponieren?«
»Ich muß wissen, wie es zu diesem verhängnisvollen Mißgriff gekommen ist. Ganz egal, wer schuld hat«, sagte Dr. Vogel hartnäckig. »Irgendwo muß eine Fehlerquelle liegen. Ich muß sie finden. Glaubst du denn, ich kann riskieren, daß etwas Ähnliches noch einmal geschieht?«
»Stell den Totenschein aus und laß die Dinge ruhn. Du bist im Begriff, einen Skandal heraufzubeschwören. Damit ist niemandem geholfen, nicht den Eltern und nicht dem toten Kind.«
»Aber den lebendigen Kindern … denen, die noch nicht einem Irrtum zum Opfer gefallen sind!«
Professor Böhninger seufzte. »Ich hätte es wissen müssen. Du kannst nicht aus deiner Haut heraus.« Er legte ihm die Hände auf die Schultern. »Natürlich hast du recht. Ich wollte dir nur sagen … das Richtige zu tun, ist nicht immer klug. Untersuch den Fall, wenn du es nicht lassen kannst.« Er seufzte tief. »Ich sehe schon, es hat keinen Zweck, dich zu warnen. Ich hoffe nur, daß ich die Dinge zu schwarz sehe. Ich bin ein alter Mann, Arno, und ich kenne das Leben.«
»Der Grund, warum ich Sie zu mir gebeten habe, ist leider außerordentlich unangenehm.« Dr. Vogel blickte von Schwester Marina zu Dr. Eichner. »Ich will ganz offen sein … der Exitus gestern nacht hat mir zu denken gegeben. Ich möchte in diesem Zusammenhang einige Fragen an Sie richten.«
»Soll das ein Verhör sein?« fragte Dr. Eichner scharf.
»Eben nicht!« Dr. Vogel hatte seinen Gästen Cognac eingeschenkt, Zigaretten angeboten, alles, um das Peinliche der Situation zu verwischen. »Ich möchte versuchen, den Fall freundschaftlich und sachlich zu klären.«
»Haben Sie schon mit Dr. Hagemann gesprochen?« fragte Eichner.
»Noch nicht. Wie ich höre, ist er noch in London.« Er machte eine kleine Pause. »Das steht mir also noch bevor.«
Dr. Vogel gab sich einen Ruck. »Ich will Sie nicht auf die Folter spannen. Heute nacht ist einem von uns ein Irrtum unterlaufen. Die Spritze, die ich dem Kleinen injizierte, als sein Atem zu versagen begann, enthielt Gradiren. Das bedeutet für ein Neugeborenes eine fünf- bis zehnfache Überdosis. Dadurch kam es zur Verkrampfung der Atemorgane und zum Exitus.«
Er ließ, während er sprach, die Schwester und den Arzt nicht aus den Augen. Eichners Gesicht wurde fleckig vor Erregung.
Marina blieb ruhig, unnatürlich ruhig.
»Sie werden sich beide erinnern«, fuhr Dr. Vogel fort, »daß ich Lobelin verlangt hatte. Einer von Ihnen beiden hat sich geirrt.« Ehe sie noch etwas äußern konnten, setzte er rasch hinzu: »Ich habe keineswegs vor, den Schuldigen bestrafen zu lassen. Wenn Sie wollen, bleibt die ganze Sache unter uns. Es kommt mir nur darauf an festzustellen, wie das geschehen konnte … damit in Zukunft ähnliche Mißgriffe mit Sicherheit ausgeschaltet werden können.«
Читать дальше