»Ich gab Ihnen die Spritze, Herr Chefarzt«, sagte Schwester Marina, »Herr Dr. Eichner hat sie aufgezogen.«
»Unerhört, unglaublich!« Eichner protestierte laut.
Marina ließ sich nicht unterbrechen. »Ich gab dem Herrn Doktor die Spritze, sah zu, wie er sie aufzog, nahm sie ihm dann aus der Hand und lief zum Operationstisch.«
»Also das ist doch …«
»Einen Augenblick bitte, verehrter Kollege.« Dr. Vogel wandte sich wieder an Schwester Marina. »Aber Sie hätten doch sehen müssen, aus welcher Packung Dr. Eichner die Ampulle genommen hatte.«
Schwester Marina antwortete erst nach einer kleinen Pause.
»Nein«, sagte sie dann, »ich habe nicht darauf geachtet.«
»Auch später nicht? Beim Aufräumen?«
Marina schüttelte den Kopf. »Mir ist an den Packungen nichts aufgefallen.«
»Na schön, das ist also Ihre Version. Und Sie, Kollege Eichner?«
»Ich habe weder die Spritze noch die Ampulle auch nur eine Sekunde in der Hand gehabt. Wie käme ich auch dazu! Es ist Aufgabe der Schwester …«
Dr. Vogel unterbrach ihn. »Sicher. Das sagten Sie schon mal. Aber Sie gingen also zum Medikamentenschrank?«
»Ich folgte der Schwester … aber erst, als mir schien, daß sie unverhältnismäßig lange brauchte. Ich folgte ihr, um zu helfen. Sie war schon dabei, die Spritze aufzuziehen, als ich zu ihr trat. Dann ging sie rasch an mir vorbei zum Operationstisch und gab sie Ihnen.«
»Das ist nicht wahr!« Jetzt wurde auch Marina laut.
Dr. Vogel hob beschwörend die Hände. »So kommen wir nicht weiter«, sagte er, »schade, sehr schade. Ich sehe keine Möglichkeit, mir nach Ihren einander widersprechenden Aussagen ein Bild zu machen. Am besten gehen wir in den OP heute nachmittag, wenn er frei ist. Dann machen wir in aller Ruhe einen Lokaltermin unter uns.«
Dr. Eichners Stimme klang schrill. »Das lasse ich nicht mit mir machen. Sie sind zu weit gegangen, Herr Chefarzt. Ich verlange, daß Anzeige erstattet wird.«
»Nimm es nicht so schwer, Arno!« sagte Regine zu ihrem Mann. »Du kannst doch nichts dafür.«
Das Wetter war umgeschlagen, ein eintöniger Regen klopfte gegen die Scheiben.
Chefarzt Dr. Arno Vogel und seine Frau Regine saßen im Wohnzimmer und tranken, wie immer nach dem Mittagessen, ihren Kaffee. Die kleine Isa lag auf dem Fußboden und kritzelte in ein altes, zerfleddertes Notizbuch.
»Ich fürchte, du begreifst nicht ganz«, sagte Arno Vogel müde. »Natürlich kann ich nichts dafür, wie du es ausdrückst. Aber ich trage die Verantwortung für alles, was in der Klinik geschieht. Was nützt es mir denn, wenn ich mir sage: Ich kann nichts dafür?«
Regine sah ihn bekümmert an. »Du nimmst deinen Beruf zu schwer. Nein, das ist nicht das richtige Wort, du nimmst ihn zu persönlich. Du leidest immer mit den andern mit, mit den Kindern und mit den Eltern. Bitte, verzeih mir, wenn ich es sage: Das ist doch eine falsche Einstellung. Ein Arzt muß mehr über den Dingen stehen …«
Arno Vogel lächelte bitter. »Ach, Regine«, sagte er. »Du weißt noch nicht alles. Der Tod des Kindes wird ein gerichtliches Nachspiel haben.«
»Um Gottes willen«, rief sie erschrocken.
»Ja, ich kann es nicht ändern. Der Eichner besteht darauf.«
»Warum? Du hast doch keinen Fehler gemacht …«
»Nein, das habe ich nicht.« Arno Vogel zündete ein Streichholz an, um seine Pfeife wieder in Brand zu setzen.
»Aber was will Kurt Eichner denn? Was hat das Ganze denn für einen Sinn?«
Arno Vogel seufzte: »Tatsächlich ist eine Verwechslung passiert. Ich habe sie als erster entdeckt. Natürlich habe ich versucht, die Sache aufzuklären. Ich habe gehofft, wir könnten das intern regeln. Aber jetzt fängt die Sache an, Kreise zu ziehen.«
»Was sagt Papa dazu?«
»Ich habe noch nicht mit ihm darüber gesprochen.«
Regine sprang auf: »Das mußt du sofort tun. Papa wird dir helfen. Soll ich ihn anrufen? Er kann sich doch den Eichner mal vornehmen. Unter keinen Umständen darf die Sache nach draußen dringen. Stell dir doch vor …« Regine beendete den Satz nicht, weil es an der Haustür klingelte.
»Moment mal«, sagte sie. »Ich sehe nach, wer da ist.« Schmal und geschmeidig, in ihrem anliegenden Kleid aus orangefarbener Wolle, ging sie zur Tür.
Arno Vogel trank noch einen Schluck Kaffee.
Die kleine Isa zog die Beine an und setzte sich auf. »Papi, du wolltest doch heute Kasperletheater mit mir spielen. Du hast es versprochen …«
»So? Davon weiß ich ja gar nichts.«
»Doch, ganz bestimmt, Papi. Weil ich gestern abend nicht aufbleiben durfte, als die vielen Leute kamen.«
»Jaja, richtig«, sagte er zerstreut. »Ich spiele auch mit dir, Isa. Aber nicht heute.«
Isa ließ sich nicht so leicht abwimmeln. »Du hast es mir aber doch versprochen«, sagte sie energisch.
Regine kam ins Zimmer. Noch ehe sie ein Wort sagte, sah er ihr an, daß etwas Unangenehmes geschehen war. Er schob die Tasse zur Seite und stand auf.
»Was ist?« fragte er gespannt.
Sie schloß leise die Tür und flüsterte ihm zu: »Dr. Hagemann ist da …« Ihre Augen waren dunkel vor Angst. »Er will dich sprechen.«
Arno Vogel legte die Pfeife aus der Hand und ging zur Tür. Draußen in der Diele stand Dr. Paul Hagemann, der Vater des Babys, das in der Klinik unter den Händen des Chefarztes gestorben war.
Schlank und sehr aufrecht stand Hagemann da. Er wirkte ruhig und beherrscht. Aber mit unheimlicher Regelmäßigkeit schlug er den Hut, den er abgenommen hatte, gegen sein rechtes Knie.
Dr. Arno Vogel grüßte mit einer knappen Verbeugung. »Herr Präsident, wollen Sie mir bitte in mein Arbeitszimmer folgen?«
»Nein«, erwiderte Hagemann unfreundlich, »das will ich nicht. Was ich Ihnen zu sagen habe, kann hier geschehen. Ich verlange eine Erklärung von Ihnen, Herr Doktor.«
»Das ist Ihr gutes Recht. Wenn ich gewußt hätte, daß Sie schon zurück sind, dann wäre ich selbst …«
Hagemann schnitt ihm mit einer heftigen Handbewegung das Wort ab: »Was ist mit meinem Kind geschehen?«
»Das Neugeborene wurde abends in die Klinik gebracht. Der diensthabende Arzt, Dr. Eichner, untersuchte es sofort. Die Blutprobe ergab …«
»Weiß ich, weiß ich alles. Aber Sie, Herr Chefarzt, haben meinem Kind eine tödliche Spritze gegeben.«
Dr. Vogel blieb ruhig. »Sie haben Herrn Dr. Eichner selbst gesprochen?« fragte er.
»Ja. Und ich bin ihm dankbar. Denn von ihm habe ich wenigstens die Wahrheit erfahren.«
In Arno Vogels Gesicht zuckte es jetzt. »Sie haben keinen Grund zu der Annahme, daß die Leitung der Kinderklinik etwa die Absicht gehabt hätte, Ihnen die Wahrheit zu verschweigen.«
»Da bin ich nicht ganz sicher«, erwiderte Hagemann heftig.
Das Gesicht des Chefarztes wurde dunkelrot. »Herr Präsident, bei allem Verständnis für Ihren Schmerz … Ich bitte Sie sehr, sich zu mäßigen. Sie werden von Dr. Eichner erfahren haben, daß ich es war, der Verdacht schöpfte, daß ich es war, der eine Untersuchung eingeleitet hat.«
»Sie haben die schuldige Krankenschwester sofort entlassen, nehme ich an?«
»Nein, Herr Präsident. Dazu hatte ich keine Veranlassung.«
Die Stimme des Präsidenten wurde schneidend: »Was? Der Tod eines Kindes hat Ihnen nicht genügt …«
»Die Schuld der Schwester ist nicht erwiesen.«
»Aber das ist ja ungeheuerlich.« Hagemann begann wieder mit dem Hut auf sein Knie zu schlagen. »Dr. Eichner sagt doch ganz klar und deutlich, daß die Schwester das falsche Medikament aus dem Schrank genommen hat.«
»Dr. Eichner ist kein unbefangener Zeuge. Die Schwester ihrerseits behauptet, Eichner habe das Medikament herausgeholt.«
Hagemann begann mit langen Schritten in der Diele hin und her zu gehen. Dann blieb er vor Dr. Vogel stehen und sagte leise: »Sie wollen also Ihren Kollegen, Ihren Oberarzt, belasten. Sie wollen behaupten, daß dieser Arzt die Schuld hat. Damit Ihre vortreffliche Krankenschwester entlastet wird. Herr Dr. Vogel, was in Ihrer Klinik geschah, ist ungeheuerlich. Aber was jetzt versucht wird … dafür fehlen mir einfach die Worte. Die Schuldige soll geschont werden.«
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