Enttäuscht folgte sie zur Tür.
Einen Augenblick lang standen sie sich gegenüber wie zwei Fremde.
Dann gab er sich einen Ruck. Er nahm sie in die Arme und küßte sie. »Adieu, Mädchen«, sagte er. »Mach’s gut.« Dann ging er …
Der Gerichtssaal war überfüllt.
Die Angeklagte Marina Overbeck in anthrazitgrauem Kostüm mit hochgeschlossener weißer Bluse machte selbstsicher ihre Aussage. Alle Fragen des Vorsitzenden und des Staatsanwalts beantwortete sie knapp, präzis und ohne Zögern. Sogar der Staatsanwalt schien vor ihr Respekt zu haben. Und Rechtsanwalt Dr. Schneiderbohm nickte ihr anerkennend zu, als sie sich wieder setzte.
Der erste Zeuge wurde aufgerufen: Dr. Kurt Eichner. Alle Köpfe drehten sich zur Tür. Dr. Eichner kam herein, korrekt in einen dunklen Anzug gekleidet, das schwarze Haar straff zurückgebürstet.
Der Richter begann mit dem Verhör, nachdem er ihn mit den Formalitäten der Prozeßordnung bekanntgemacht hatte. »Sie wissen, Herr Doktor Eichner, daß Sie die Aussage verweigern können, wenn Sie meinen, sich einer Strafverfolgung auszusetzen. Wollen Sie von dieser Möglichkeit Gebrauch machen?«
»Nein, Herr Vorsitzender.«
»Gut, beginnen wir mit dem entscheidenden Augenblick. Chefarzt Doktor Vogel forderte die Spritze mit Lobelin. Was taten Sie daraufhin?«
Eichner schilderte den Vorgang. Und wiederholte seine Behauptung, daß er weder die falsche Ampulle noch die Spritze in der Hand gehabt hatte.
»Warum sind Sie denn überhaupt vom Operationstisch weggegangen?« fragte der Richter.
»Mir schien an diesem Abend, daß Schwester Marina übermüdet und zerfahren wirkte. Ich wollte ihr helfen. Aber dazu kam es gar nicht.«
Marinas Rechtsanwalt erhob sich. Er stützte beide Hände auf den Tisch, beugte sich vor und sah Dr. Eichner durchdringend an. »Herr Zeuge, Sie sind sich darüber klar, daß Ihre Aussage einige unklare Punkte enthält.«
»Darüber bin ich mir durchaus nicht klar, Herr Rechtsanwalt.«
»Dann will ich es Ihnen erläutern. Sie behaupten, daß sich die Angeklagte in jener Nacht in schlechter Verfassung befand?«
»Jawohl.«
»Das hat Sie nicht auf die Idee gebracht, die Angeklagte von einer anderen Schwester ablösen zu lassen?«
»Nein, das wäre Sache des Chefarztes gewesen.«
»Sie haben Herrn Doktor Vogel auf die Verfassung der Angeklagten aufmerksam gemacht?«
Eichner zögerte mit der Antwort. »Nein«, sagte er schließlich. »Ich bedauere das sehr.«
»Sie bedauern es.«
Eichner gab sich einen Ruck. »Es hätte auch nichts genutzt.«
»Warum nicht?«
»Der Chefarzt hält große Stücke auf die Angeklagte. Er hätte meine Warnung sicher nicht berücksichtigt.«
»Wie konnten Sie das wissen? Warum haben Sie nicht selbst mit der Schwester gesprochen, wenn Sie meinten, der Chefarzt hätte eine solche Warnung überhört? Sie waren doch diensthabender Arzt an jenem Abend.«
»Ja, das war ich.«
»Sie hatten also die Autorität, die Angeklagte nach Hause zu schicken und eine andere Schwester anzufordern. Warum taten Sie es nicht?«
Es wurde unruhig im Saal. Der Richter hob warnend den Kopf.
Dr. Eichner war blaß, als er antwortete: »Schwester Marina ist sehr … sehr empfindlich. Ich wollte sie nicht kränken.«
»Sie wollten also die Gefühle der Angeklagten schonen. Und deshalb ließen Sie die Schwester ihre Arbeit verrichten, obwohl die Gefahr bestand, daß sie diese höchst verantwortungsvolle Arbeit nicht richtig durchführen würde.«
Eichner strich sich nervös durch das Haar. »Ich glaube, ich muß mich deutlicher ausdrücken, noch deutlicher.«
Der Rechtsanwalt lächelte. »Ich wäre Ihnen dankbar.«
»Die Angeklagte schien mir nicht ganz auf dem Posten zu sein in jener Nacht. Aber ich meinte nicht, daß es so gravierend war. Erst nachträglich wurde mir klar, daß sie … daß sie gewissermaßen verstört wirkte.«
Der Rechtsanwalt richtete sich auf. »War die Angeklagte in einer schlechten Verfassung? Ja oder nein?« fragte er scharf.
»Es schien mir so, als wäre sie nicht recht in Form.«
»Es schien Ihnen so … Schien es Ihnen so während der Operation oder erst am nächsten Tag? Als der Chefarzt Sie und die Schwester zur Rede stellte? Oder schien es Ihnen vielleicht noch später?«
Eichner schwieg.
»Sie müssen dem Herrn Verteidiger antworten«, mahnte der Vorsitzende.
Eichner konnte sich nicht mehr beherrschen. »Auf welche seiner Fragen?« sagte er wütend. »Ich kenne mich nicht mehr aus.«
»Dann werde ich Ihnen helfen«, erwiderte der Rechtsanwalt ruhig. »Wann ist es Ihnen eingefallen, ich sage absichtlich eingefallen, daß die Angeklagte sich in der fraglichen Nacht in einer schlechten Verfassung befand?«
»Daran kann ich mich nicht mehr genau erinnern.«
»Ihre Erinnerung an jene Nacht ist also nicht ganz klar.«
»Das habe ich nicht gesagt.« Eichners Stimme wurde schrill. »Glauben Sie, ich merke nicht, was Sie mit mir vorhaben? Ich weiß genau, daß Sie mich verwirren wollen. Ich habe die Vorgänge in jener Nacht mehrmals genau geschildert. Sie haben kein Recht, ständig meine Worte anzuzweifeln. Ich bin schließlich kein Verbrecher. Ich nicht.«
Rechtsanwalt Dr. Schneiderbohm setzte sich. Dabei sagte er: »Ich denke, wir verzichten vorläufig auf eine Vereidigung.«
Eichner nahm auf der Zeugenbank Platz.
Immer wieder wanderten seine Blicke zu dem Rechtsanwalt, den er haßerfüllt ansah.
Der Richter blätterte in seinen Akten. »Ich schlage vor, daß wir jetzt den Chefarzt Doktor Arno Vogel zu Wort kommen lassen.«
»Verzeihung, Herr Vorsitzender«, sagte der Staatsanwalt. »Ich möchte lieber, daß wir erst die Zeugin Hilde Güldener befragen.«
Rechtsanwalt Dr. Schneiderbohm sah den Staatsanwalt erstaunt an. Der fuhr fort: »Die Staatsanwaltschaft hat den Antrag auf Vernehmung dieser Zeugin nachträglich eingereicht, Blatt 27, 3a.«
Der Vorsitzende blätterte in Papieren.
»Ich erhebe Einspruch«, sagte Dr. Schneiderbohm. »Von der Existenz dieser Zeugin höre ich hier zum ersten Male.«
Der Staatsanwalt sah lächelnd zu Dr. Schneiderbohm. »Hilde Güldener ist Tatzeugin. Ihre Vernehmung ist wichtiger als die des Chefarztes. Denn Doktor Vogel hat ja selbst nichts beobachtet.«
»Die Zeugin Hilde Güldener«, entschied der Richter.
Der Justizwachtmeister rief ihren Namen in den Korridor.
Schwester Hilde kam in den Gerichtssaal. Sie trug ein leuchtend buntes Sommerkleid, weiße Pumps mit hohen Absätzen und weiße, ellbogenlange Lederhandschuhe. Ihr Haar glänzte silberblond.
Sie erzählte: »Ich hatte an dem Abend um sieben Uhr meinen Dienst angetreten, auf der Privatstation des Herrn Chefarztes. Schwester Marina, die ich ablösen sollte, erklärte mir noch einmal genau, worauf ich bei dem kleinen Patienten zu achten hätte. Sie war noch um acht Uhr im Hause, als das Neugeborene mit dem Rhesusfaktor eingeliefert wurde. Und dann blieb sie, um bei der Operation zu helfen.«
Der Richter fragte: »Ist Ihnen an der Angeklagten etwas Besonderes aufgefallen?«
»Nein, eigentlich nicht. Höchstens …«
»Was höchstens?«
»Sie schien mir sehr müde zu sein. Das war ja auch kein Wunder. Seit dem frühen Morgen war sie auf den Beinen. Ich half ihr bei den Vorbereitungen zur Blutaustausch-Transfusion. Als der Chefarzt mit dem Eingriff begann, verließ ich den OP.«
»Und wann erfuhren Sie von dem Tod des Kindes?«
»Ich war ja dabei.«
Die Zuhörer begannen aufgeregt zu flüstern.
Der Richter schlug mit dem Bleistift auf den Tisch. Dann fragte er die Zeugin: »Sie waren anwesend? Und das sagen Sie jetzt erst?«
»Ja, ich weiß, es war ein Fehler. Aber ich bewundere Schwester Marina sehr. Sie ist mein Vorbild, und sie hatte doch an dem betreffenden Tag so schweren Dienst gehabt. Ich habe mich davor gefürchtet, sie zu belasten.«
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