»Na hören Sie!« Der Ton des Richters wurde streng und laut. »Sie haben nur eins zu fürchten: daß Sie nicht die volle Wahrheit sagen.«
Schwester Hilde sah den Gerichtsvorsitzenden erschrocken an.
»Ich will ja auch alles sagen.«
»Gut, berichten Sie jetzt.«
»Der kleine Thomas auf der Privatstation war in der Nacht sehr unruhig. Er konnte nicht einschlafen. Ich wußte nicht, ob ich ihm noch ein Beruhigungsmittel geben durfte. Der Herr Chefarzt, der Oberarzt Doktor Eichner und Schwester Marina waren im OP. Deshalb ging ich nochmals hin. Über der Tür brannte das rote Licht. Ich machte sie vorsichtig auf, und dann wartete ich an der Tür auf einen günstigen Moment, um Marina zu fragen. Niemand sah mich. Der Herr Chefarzt beugte sich über den Operationstisch. Er wandte mir den Rücken zu. Schwester Marina stand am Medikamentenschrank und zog eine Spritze auf. Oberarzt Doktor Eichner kam auf sie zu und wollte ihr die Spritze abnehmen. Aber sie ging selbst zum Chefarzt und gab ihm die Spritze. Und nach einer Weile hörte ich, wie der Herr Chefarzt sagte ›Exitus‹. Und dann schloß ich ganz leise die Tür und ging wieder weg.«
»Ohne mit jemand gesprochen zu haben?« fragte der Richter.
»Ich traute mich nicht mehr.«
»Haben Sie später jemand von Ihrer Beobachtung erzählt?«
»Ja, meinem Vater. Der riet mir, zur Staatsanwaltschaft zu gehen.«
Der Richter räusperte sich. »Sie können Ihre Aussage beschwören?«
Schwester Hildes Stimme war leise, aber fest. »Jawohl, Herr Vorsitzender.«
Der Richter bat jetzt Dr. Eichner nach vorn. Der Oberarzt stand dicht neben Schwester Hilde. Beide sprachen dem Vorsitzenden die Eidesformel nach.
Marina bedeckte ihr Gesicht mit den Händen.
»So«, sagte der Richter, beinahe gemütlich, »und jetzt wollen wir den Herrn Chefarzt persönlich zu Rate ziehen.« Er wandte sich zum Wachtmeister: »Herr Doktor Vogel, bitte.«
Als Arno Vogel den Saal betrat, erreichte die Spannung im Publikum ihren Höhepunkt. Mit unverhohlener Neugierde sahen auch Richter, Staatsanwalt und Rechtsanwalt dem Arzt entgegen.
Sein Gesicht war verschlossen. Kein Muskel regte sich.
»Na, nun beruhigen Sie sich mal«, sagte der Rechtsanwalt.
Er ging neben Marina die Treppe hinunter, die in den Vorhof des Gerichtsgebäudes führte. »Soll ich Ihnen ein Taxi bestellen?«
Marina antwortete nicht. Drei Monate Gefängnis … dachte sie. Schuldig, den Tod des neugeborenen Kindes Peter Hagemann fahrlässig verursacht zu haben … Die Strafe zur Bewährung ausgesetzt …
Die Worte des Richters wirbelten ihr im Kopf herum. Sie konnte sie wörtlich wiederholen.
Aber sie konnte sie nicht fassen.
Sie gingen durch den Vorhof zur Ausgangstür. »Was hatten Sie denn erwartet?« sagte der Rechtsanwalt. »Nachdem Ihre Kollegin unter Eid so eindeutig ausgesagt hatte, war doch nicht mehr viel drin. Und Doktor Vogel …«
»Doktor Vogel«, wiederholte Marina mechanisch. »Das hätte ich von meinem Chef nicht gedacht.«
»Aber, Kindchen.« Der Rechtsanwalt blieb stehen. »Verrennen Sie sich doch nicht. Was sollte er denn sonst sagen? Er hat Sie über den grünen Klee gelobt. Aber wer die Spritze aufgezogen hat, vermochte er nun einmal nicht zu sagen.«
»Er kennt mich doch. Er weiß, wie gewissenhaft ich bin.« Marina begann leise zu schluchzen.
»Sie haben doch Bewährung.« Der Rechtsanwalt schüttelte den Kopf. »Nehmen Sie sich zusammen.«
»Doktor Eichner und Schwester Hilde haben einen Meineid geschworen«, stieß Marina hervor.
»Na, na, nun seien Sie mal friedlich. So etwas dürfen Sie nicht sagen.«
»Die beiden stecken doch unter einer Decke.«
Rechtsanwalt Dr. Schneiderbohm wurde aufmerksam. »Haben Sie für Ihre Vermutung Beweise? Haben Sie etwas Bestimmtes beobachtet? Sind die beiden, na sagen wir, intim miteinander befreundet?«
»Nein, ich kann es nicht beweisen. Ich weiß nur, daß ich zu Unrecht verurteilt worden bin. Ich werde Berufung einlegen.«
Der Rechtsanwalt seufzte. »Mein liebes Fräulein Overbeck, überlegen Sie sich die Sache. Bei einer Berufung können Sie leicht schlechter wegkommen.«
Er schob den Ärmel seines Talars zurück und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Tut mir leid, in fünf Minuten beginnt mein nächster Fall.«
Marina sah dem Rechtsanwalt nach, wie er mit wehendem Talar die Treppe hinaufeilte und um eine Biegung verschwand.
Und dann, als sie sich zum Gehen wandte, sah sie Herbert. Sein jungenhaftes Gesicht war verdüstert. Aber Marina bemerkte es nicht. Sie sah nur, daß er da war, daß er auf sie gewartet hatte. Mit einem kleinen Schrei warf sie sich in seine Arme. »Herbert«, sagte sie schluchzend und immer wieder »Herbert …«
Er stand steif da, ohne sich zu rühren. Dann, nach einer langen Pause, schob er sie von sich.
Flehentlich sah sie ihn an. »Ich wußte ja, du würdest mich nicht im Stich lassen, du, als einziger.«
Er schluckte ein paarmal, bevor er antwortete. »Hör mal, Marina, ich muß mit dir sprechen.«
»Hast du Zeit für mich?« fragte sie hoffnungsvoll. »Kannst du mich nach Hause bringen? Kannst du bei mir bleiben?«
»Ich fürchte, so viel Zeit habe ich nicht.«
»Hier in der Nähe ist ein kleines Café. Können wir da nicht hingehen?«
Sie verließen das Gerichtsgebäude. Draußen blieb Herbert stehen.
»Marina«, sagte er. »Das Ganze ist sinnlos. Wir wollen uns nichts vormachen. Schließlich sind wir beide erwachsene Menschen.«
Marina sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an. »Was willst du damit sagen?«
»Marina, mach es mir nicht so schwer. Du weißt doch genau …«
Ihre Stimme war ganz leise, als sie antwortete: »Ich weiß nur, daß wir miteinander verlobt sind. Ich weiß, daß wir uns versprochen haben, unser ganzes Leben miteinander zu verbringen. Ich erinnere mich genau, wie oft du zu mir gesagt hast: In guten und in bösen Stunden wollen wir …«
»Marina, bitte«, sagte er kläglich. »Können wir nicht in aller Freundschaft …« Er zögerte, und erst nach einer Pause kam das Wort, das sie gefürchtet, aber auch erwartet hatte: »auseinahdergehen?«
Sie sah ihn mit großen Augen schweigend an.
Nachdem das Wort ausgesprochen war, redete er schnell weiter: »Meinst du denn, mir fällt es leicht? Was soll ich denn tun? Schließlich bist du doch an allem selbst schuld. Wenn du nicht die Ampullen verwechselt hättest … Sieh mal, ich bin Polizeibeamter. Ich kann doch niemanden heiraten, der vorbestraft ist. Laß uns doch die Dinge sehen, wie sie sind.«
Sie ging mit kleinen Schritten neben ihm her und schwieg.
»Na ja«, sagte er eifrig. »Es wird schon alles gut werden, auch für dich. Wir sind doch beide noch jung. Paß mal auf, du wirst mich schneller vergessen als ich dich.«
Er sah sie kurz von der Seite an und sprach immer schneller weiter. »Nach ein paar Wochen ist Gras über die Sache gewachsen. Kein Mensch fragt mehr danach. Bei mir ist es doch leider etwas anderes. Ich bin Beamter.«
Marina ging schweigend neben ihm her.
»Und sieh mal, was das Finanzielle betrifft, das können wir schnell in Ordnung bringen.«
Er holte aus seiner Jacke ein zusammengefaltetes Papier heraus. »Ich habe unseren Bausparvertrag für alle Fälle gleich mitgebracht.«
Marinas blasses Gesicht war unbewegt. Sie sah nicht nach links und nicht nach rechts, als sie an seiner Seite die Straße überquerte.
Herbert fuhr fort: »Die Karte mit unserem letzten Kontoauszug ist auch dabei. Bitte, überzeuge dich selbst. Leider kann ich dir deinen Anteil nicht in bar auszahlen. Aber ich denke, der Vertreter der Bausparkasse wird schon einen Ausweg wissen. Du kannst sicher sein, ich werde das korrekt erledigen.«
Endlich sah sie ihn an, endlich begann sie zu sprechen: »Ich vertraue dir vollkommen«, sagte sie mit einem müden Lächeln. »Ich weiß, du bist die Korrektheit in Person.«
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