Wie gesagt, trug sich diese Geschichte vor etwa zwanzig Jahren zu. Ich dachte in dieser Zeit kaum an sie, aber jetzt, während meines Forschungsaufenthaltes in der Elfenbeinküste, kam sie mir wieder in den Sinn und beschäftigt mich seitdem, weil sie mir fast die Quintessenz dessen auszumachen scheint, was die Europäer von den Afrikanern, oder die Christen/Monotheisten von den Heiden/Polytheisten unterscheidet:
In Afrika ist die Moral der power nicht entgegengesetzt, sondern folgt ihr. Der Erfolgreiche ist ein Muster des richtigen Lebens. Infolgedessen gibt es nicht – wie in unserer Kultur – ein Ressentiment des Unterlegenen und ein Schuldgefühl des Überlegenen, gibt es keine Idealisierung – wie bei uns – von Schwäche, Leiden, Armut, Krankheit, Ehelosigkeit, Einsamkeit, Ungebildetheit, Machtlosigkeit, Wahnsinn, Verzweiflung, Trauer, Verkanntheit, Außenseitertum, äußerlicher Unansehnlichkeit (versus innerer Schönheit), sogar des Selbstmordes und des Todes selbst, gibt es keine Verneinung oder Herabsetzung des Lebens zugunsten eines Jenseits‘ oder einer Transzendenz, kurz: keine „Sklavenmoral“ im Sinne Nietzsches. Der Antagonismus von Stärke und Moral dürfte eines der Kennzeichen unserer christlichen Kultur sein, das das eigentliche Christentum überdauert hat und fortwirkt in Leuten wie mir und den so genannten Entwicklungshelfern, die wir uns nicht allzusehr als „Christen“ verstanden und trotzdem in einer typisch abendländischen Art auf den Bischof reagierten. Wir partizipierten nicht, durch ihn, an seiner „Potenz“; wir stellten sie in Frage oder in ein schiefes Licht. In Afrika gibt es diesen moralischen Vorbehalt gegenüber Reichtum, Macht, Stärke, Potenz, Intelligenz, Wissen, Schönheit und Kinderreichtum nicht. Stärke ist gut, und zwar „gut“ in der ganzen Bandbreite seiner Bedeutung. Bei uns hat die Einstellung, dass der, der keine Macht hat, dafür die Moral für sich beanspruchen kann, über die eigentlich christliche Sphäre hinaus unzählige Diskurse geprägt: Die kritischen Diskurse der oppositionellen Politik, der Intellektuellen, des Journalismus, der Revolution, bis zur Psychoanalyse (die daraus ihre „subversive“ Kraft bezieht, aber vielleicht auch diesen etwas melancholisch-fatalistischen Tonfall, wenn sie von kulturell notwendigem Triebverzicht spricht, von Unbehagen, gemeinem Leiden, Todestrieb, Kastration und unvermeidlichem Mangel). Möglicherweise nähert sich diese Epoche dem Ende; der Begriff der Kritik wird heute selber kritisiert, und was man Postmoderne nennt, ist vielleicht tatsächlich das Ende des Monotheismus (der in Form verschiedener Mono-Ideologien den Tod Gottes noch etwas überlebte) und der Anfang eines neuen Polytheismus, mit allen psychischen Implikationen. Die unzählbaren Richtungen, Götter und Geister der Esoterik können als Zeichen dafür gelesen werden.
Damit ist auch bereits die Grenze dieser Gegenüberstellung von afrikanischem Polytheismus mit seiner Wertschätzung der Stärke und abendländischem Monotheismus mit seiner moralischen Idealisierung der Schwäche angezeigt. In der Realität lässt sich die Grenze zwischen diesen Auffassungen nicht geografisch ziehen. Aber als Modell erlaubt es doch, im Umweg über das Andere am Eigenen einiges schärfer zu sehen.
In diesem „heidnischen“ Modell also – um zusammenzufassen – gibt es keine moralische Herabsetzung des geglückten, glücklichen Lebens. Dadurch gibt es aber auch nichts, was den Neid leichter erträglich machen oder abwehren würde. Wenn ich den Erfolg des andern nicht entwerten kann, im abendländischen Sinne von „Seine Trauben, die ich selbst nicht habe, sind sowieso sauer“, dann möchte ich teilhaben am „Gut meines Nächsten.“ In diesem Sinne wäre die christliche Moral und Metaphysik mit ihrer Relativierung des physischen Glücks eine Medizin gegen den unerträglichen Neid, gegen den quälenden Wunsch nach dem, was der andere hat und ich nicht; eine Untersagung der schrankenlosen Übertragungen und Übertretungen. Eine Rezeptur auch gegen das Gespenst der Hexerei, wie noch zu zeigen sein wird; Rezeptur, die vielleicht sogar nebenbei den Kapitalismus mit ermöglicht hat, der nur mit einer gewissen Gier- und Neidkontrolle funktioniert, mit einer Legitimierung des nichtgebenden Habens, mit der Aufrichtung von unpassierbaren psychoökonomischen Schranken zwischen den Individuen. Vielleicht erklärt das auch den Widerspruch, dass es gerade unsere Kultur, in der der weltliche Erfolg so herabgesetzt wurde, zu einem solchen Erfolg gebracht hat; aber das ist eine andere Geschichte.
Um vorerst auf den potenten Bischof zurückzukommen: Warum brauchte es diese Nachträglichkeit von zwölf Jahren, bis diese Geschichte in meiner bewussten Psyche ihre Wirkungen entfaltete? Dazu möchte ich nun die zweite Geschichte erzählen.
Übertretungen des Agronomiestudenten – Sex
Es ist die Geschichte eines Schweizer Agronomiestudenten, der in der Elfenbeinküste ein zweimonatiges Praktikum absolvierte. Zu diesem Zweck lebte er einige Wochen in einem Dorf, wo Jamsknollen angepflanzt wurden, deren Lagerung mit seiner Hilfe verbessert werden sollte. Eines Abends wurde ein Fest gegeben. Und was ihm da widerfuhr, erzählte er mir:
Zwei Kollegen aus dem Dorf kamen am frühen Abend mit einem Mädchen zu meinem Haus, stellten es mir vor und sagten: „Willst du sie?“
Ich war verwirrt und fragte: „Was heißt das – willst du sie?“ Sie lachten und sagten: „Wenn sie dir gefällt, kannst du heute abend mit ihr tanzen.“
Ich sagte: „Gut, ich tanze gerne mit ihr, aber mehr nicht. Ich habe eine feste Freundin in der Schweiz, in drei Wochen werde ich zurückkehren, ich habe keine Lust auf ein Abenteuer.“
Sie sagten: „Gut, um zehn Uhr holen wir dich ab.“
Sie kamen, wir gingen zum Fest, ich tanzte mit dem Mädchen, aber es war etwas langweilig, sie sprach kaum Französisch, war auch gar nicht gesprächig und schien mir eher desinteressiert und abwesend. So verabschiedete ich mich gegen Mitternacht und legte mich schlafen.
Am nächsten Morgen wurde ich durch Klopfen an meiner Tür geweckt. Die Delegation vom Vorabend stand wieder vor meinem Zimmer, dieses Mal allerdings ohne das Mädchen.
„Warum hast du das Mädchen einfach stehen lassen?“, fragten sie. „Hat sie dir nicht gefallen?“
Sie waren recht aggressiv und ich war zu verwirrt, um überhaupt richtig zu antworten. Zuerst meinte ich noch, sie scherzten, aber ihre Empörung über mein Benehmen war echt. Ihre Anklagen wurden immer heftiger und gipfelten schließlich in der Aussage:
„Sie hat dir nicht gefallen, weil sie schwarz ist. Deshalb wolltest du nicht mit ihr ins Bett. Du hast ihr nicht einmal etwas gezahlt. Du findest die Afrikanerinnen hässlich. Du bist ein Rassist.“
Es bleibt noch hinzuzufügen, dass meine Forschungsarbeit im Dorf für die verbliebene Zeit fast unmöglich geworden war durch dieses Zerwürfnis mit den Kollegen.
Unser guter Europäer: Er wollte kein Rassist sein; er wollte nicht einer von denen sein, die nach Afrika reisen, mit der Erstbesten ins Bett gehen und ihr dafür ein Goldkettchen schenken. In den Augen seiner afrikanischen Kollegen war er aber unanständig; gerade weil er so anständig sein wollte.
Die Geschichte hätte übrigens noch weitergehen können. Wäre er mit ihr ins Bett gegangen, hätte er dann vielleicht pflichtbewusst rechtzeitig sein Präservativ gezückt, im guten Gefühl, kein rücksichtsloser Macho zu sein, sondern auch an die Frau zu denken. Es hätte ihm passieren können, dass die Frau gesagt hätte: „Ich schlafe nur ohne Pariser mit dir.“
„Warum das?“
„Weil ich ein Kind von dir will.“
„Warum?“
„Weil ich dich liebe.“
„Du kennst mich ja kaum!“
„Ich möchte ein Kind von dir.“
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