Nicolai schaute noch einmal nach rückwärts. „Da hätte nun Herr Roloff hingehört!“ sagte er unvermittelt und ironisch zwischen den Zähnen.
Roloff! Lisa entsann sich, dass der Direktor Karl Görwihl in der Eisenbahn ihr schon von dieser neuen Stütze der Firma Sandbauer und Sohn gesprochen. „Wer ist denn der Herr Roloff eigentlich?“ frug sie.
„Roba Roloff?“ Ihr Mann lachte kurz auf und zuckte die Achseln. „Darüber reden wir, wenn wir zu Hause sind! Hier ist nicht der Ort dazu! Man versteht ja auch sein eigenes Wort nicht vor diesem Rädergerassel.“
Eine Weile rollte die Equipage noch auf den harten Kopfsteinen dahin, dem einzigen Pflaster, das der Sonnenglut Odessas widerstand, wenn der Asphalt auf dem Boulevard vor Hitze breiig weich wurde und der flüssige Teer zwischen den Holzwürfeln hervorquoll. Dann wehten ihnen mächtige weisse Wolken entgegen, die Fahrt wurde plötzlich lautlos in dem tiefen Staub; man war ausserhalb der Stadt, auf dem Weg zu der Kleinen Fontäne.
Hier befand sich, wohl eine Stunde weit zwischen der Strasse und dem Schwarzen Meer ausgedehnt, das Villenviertel der internationalen Grosskaufmannschaft Odessas. Schon die Namen der Eigentümer, die an jedem Parktor standen, gaben ein Bild davon, wie sich in der Entwicklung der Stadt die einzelnen Nationen, Schicht auf Schicht übereinander gelagert, sich gegenseitig abgelöst oder auch in gemeinsamer Arbeit gefunden hatten. Besassen doch in den früheren Zeiten Odessas die einzelnen Völker ihre eigenen Strassen, die Franzosen, nach denen zwei der grössten Verkehrsadern die Namen „Richelieu“ und „de Ribas“ führten, die Schwarzwälder Deutschen, die die Schmiede- und die Wagnerstrasse innehielten, die Griechen, die Italiener, deren Einfluss eine Zeitlang so mächtig war, dass noch in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts Italienisch die vornehmste Umgangssprache bildete und bis in die siebziger Jahre die Strassennamen an den Ecken italienisch angeschrieben waren. Dazu kamen dann die Polen, die Hebräer in Menge, und hinter ihnen auch die Russen, je mehr, von baltischen Baronen gebaut, die Eisenbahnen von dem Hafenplatz in das Innere des Zarenreichs vordrangen, dann die Armenier, die Engländer und Amerikaner, und wer in diesem Völkerstreit Sieger geblieben und sich Geld und Gut errungen, der baute sich, als Zeichen seiner Zugehörigkeit zur ersten Gilde, ein Landhaus an Der Grossen oder der kleinen Fontäne und ruhte da in der kühlenden Seebrise von des Tages Last und Sorgen aus. Nur einige der allerältesten und reichsten Familien verzehrten, soweit sie nicht ihren Wohnsitz ganz nach Paris verlegt hatten, ihre Renten im Ausland und erschienen höchstens einmal, im Mai oder wenn im Herbst der Weizen exportfähig wurde, in ihrer Heimat.
Auch in der Bezeichnung der einzelnen Häuser spiegelte sich deutlich erkennbar die Anzahl der Jahrzehnte wider, die der Inhaber oder seine Vorfahren schon im Lande zugebracht. Die Familien, deren Erinnerung noch dunkel an die Zeit zurückreichte, da Odessa eine halb orientalische, ungepflasterte, wasserlose und von wilden Hunden und türkischen Kamelzügen wimmelnde Stadt gewesen, gaben ihrem Sommerheim noch den veralteten tatarischen Namen „Choutor“; die Neueren, hauptsächlich die Russen, bezeichneten es wie überall sonst in Moskau, Kiew und Petersburg als „Datsche“; die Allerneuesten, die westeuropäisch Gesinnten, die Ausländer zogen das farblose, allgemein gültige „Villa“ vor.
Ein jedes dieser meist einstöckigen Gebäude lag inmitten eines weitläufigen, mit Mauern oder Eisengittern umgebenen, mit Akazien bepflanzten Gartens. Aber nirgends war ein grünes Blatt, ein Fleckchen saftiger Rasen zu erblicken. Die Sonnenhitze hatte das Laub gebräunt und verdorrt, die Halme am Boden fahl gebrannt, der Staub lag darüber. Es war ein trauriges Bild, dies mühsame halbverlorene Menschenwerk, in das von ferne schon das eigentliche Reich der südrussischen Natur, die dürstende, glutatmende, unermessliche Steppe hereinlugte.
Der Wagen machte eine Schwenkung und fuhr durch ein offenes Tor in den Sandbauerschen Garten ein. Lisa wollte gar nicht erst rechts und links sehen. Die toten Farben der verschmachtenden Büsche und Wiesen stimmten sie doch nur traurig. Aber plötzlich erhellte sich ihr Gesicht. Um sie war frisches lichtes Grün. Das Strauchwerk schimmerte taubeperlt, der Rasen dampfte satt, dichtsprossend vor Feuchtigkeit; auf ihm leuchtete ein buntes Teppichbeet mit den Anfangsbuchstaben ihres Namens.
„Nun — was sagst du zu der Überraschung?“ sprach Nicolai triumphierend. „Ich weiss, wie schrecklich dir dieses Wüstenartige bei uns im Sommer ist. Da habe ich mit der Stadt ein Abkommen wegen des Wassers getroffen und jeden Tag begiessen und sprengen lassen.“
„Aber das wird ja Hunderte von Rubeln kosten!“
„Sogar ein paar Tausend!“ Er machte eine lässige Handbewegung, um den Gedanken an Geld abzuwehren. „Wenn du nur Freude daran hast . . .“
„Und wie!“ Ihre Augen waren feucht. Sie war ganz gerührt und reichte ihrem Mann dankbar die Hand. Aber bei der Art, wie er sie nahm und zerstreut lächelnd an die Lippen führte, durchzuckte sie sofort wieder der Gedanke: Es ist ja doch nur sein schlechtes Gewissen, keine Liebe! Morgen abend spätestens fährt er wieder zu Madame Yannopoulo . . .
Er half ihr aus dem Wagen. Sie traten in das Innere des Hauses, das ganz dämmerig war mit seinen gegen die Sonne herabgelassenen Jalousieen und doch erstickend heiss. Die Dienerschaft drängte sich unter tiefen russischen Verbeugungen zum Handkuss. Sie sagte jedem ein paar freundliche Worte, und währenddessen frug Nicolai: „Wirst du dich noch schlafen legen?“
„Nein. Ich bin gar nicht müde von der Reise.“
„Dann wäre es am besten, wir gehen noch am Vormittag zu Papa hinüber. Um die Zeit ist er am frischesten. Ich erwarte dich hier unten, etwa in einer Stunde. Soll der Wagen angespannt bleiben?“
Von Nicolais moderner, im Stil eines italienischen Landhauses gehaltenen Villa bis zu dem altfränkischen, seit mehr als fünfzig Jahren im Besitz der Familie befindlichen Choutor Sandbauer, in dem sein Vater einsam als Witwer wohnte, waren es nur ein paar Minuten. So verneinte Lisa. „Der Kutscher soll mich lieber dort abholen. Ich will von dort in die Stadt fahren und nach den Meinigen sehen.“
Langsam stieg sie die Treppe hinauf zu ihren Gemächern im oberen Stockwerk. Ihr Lieblingsraum war da das Eckzimmer in dem an die Villa angebauten Turm. Nach drei Seiten öffneten sich in ihm grosse Fenster und boten einen beinahe unbeschränkten Ausblick über Land und See. Da sass sie auch jetzt, nachdem sie sich umgekleidet und von dem Reisestaub befreit, und starrte träumend in die Ferne. Das tiefe russische Schweigen umgab sie lähmend und bannend nach dem Lärm der Fahrt, die gedrückte Stille unter dem weiten Himmel, über der weiten Ebene, in der der Charakter des Volkes sich widerspiegelt. Fuhr draussen ein Wagen vorbei, so rollte er lautlos im Staub, die Bettler und Bauern schlichen unhörbar auf ihren weichen Bastschuhen dahin, die flachsmähnigen Kinder, die seitwärts in den Büschen am Strande, nur mit einem kleinen Heiligenbild um den Hals bekleidet, badeten und spielten, flüsterten nur miteinander — kein Streit und Zank, kein Peitschenknall und Pfeifen, kein Geschrei wie im Westen — aber auch kein Lachen, kein Geträller, kein Vogelruf im Garten — eine Grabesruhe in der Mittagsglut, etwas Geheimnisvolles . . . Schwermütiges . . . etwas, das willenlos machte und, des ewig gleichen Schicksals müde, die Augenlider sinken liess . . .
Sie hob rasch den Kopf und schaute wieder um sich. Dort drüben, weit von hier, hinter den letzten Baumgruppen der Akazien, den dazwischen eingebetteten weissen Vorstadthäusern und Truppenzelten, den grossen öden Plätzen sah man ein Stück Steppe. Nur den Anfang, einen Streifen verdorrte, am Horizont flimmernde Wüste. Was dahinter lag, die Unendlichkeit der baum- und wasserlosen südrussischen Prärie, das konnte man nur ahnen. Anders auf der entgegengesetzten Seite. Da leuchtete das Blau heiss, verzehrend, förmlich lachend durch das Fenster. Oben das lichte, wolkenlose Blau der Himmelswölbung, darunter, bis zu den Grenzen des menschlichen Auges ausgebreitet, dunkler, beinahe stahlfarben, der Spiegel des Schwarzen Meeres. Schneeweisse Gischtkämme blitzten hundertfach darin auf, weisse Fischersegel glitten darauf hin, weisse Möwen flatterten .um sie her. Einige schnurgerade glasgrüne Bahnen zogen sich durch die Wellen, schwere graue Rauchfahnen hingen darüber, und ganz am Horizont, am Ende des Kielwasserstreifens erkannte man die schon winzig klein gewordenen, wie qualmende Nussschalen davonschwimmenden Dampfer. Die fuhren jetzt wohl nach Konstantinopel . . . übermorgen früh waren sie dort und warfen im Goldenen Horn vor dem Yldizkiosk Anker, oder hinüber nach der Krim und landeten morgen vormittag schon an ihren Lorbeer- und Orangenhainen, ihren Moscheen und Tatarendörfern, oder weiter nach dem Kaukasus . . . jedesmal, wenn Lisa ein Schiff den Hafen verlassen sah, bekam ihre Seele die Sehnsucht . . . den Drang: fort von hier! . . . Es war doch sicher nicht das Rechte, wie man hier lebte . . . es musste einen Ort geben, wo das besser war . . . man wusste nur nicht den Weg dahin . . . und lebte weiter . . . und verlernte das Hoffen . . .
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