Ich verstand kein Wort.
„Canis ist der schlechteste Wurf. Zweimal die Eins. Venus der beste – zweimal die Sechs. Bei vier Würfeln gilt die Regel doppelt. In Rom sind alle Kinder verrückt nach Würfelspielen. Jeder kennt dort den ‚verfluchten Hund‘, den Canis, und den ‚Glück verheißenden Sechser‘, die Venus.“
Ich schob die Würfel fasziniert in meiner Handfläche hin und her. Schwarze Kreise markierten die verschiedenen Seiten. Diese Würfel sahen geheimnisvoll aus. Ob man damit zaubern konnte, so wie Alrun mit ihren Runenstäbchen?
Ich fragte Titus sogleich.
Der fand meine Frage äußerst komisch und prustete los: „Bei Jupiter, nein, Tore, nur spielen.“
„Aber wie?“
„Pass auf! Ich zeig’s dir.“
Er nahm die Würfel in seine Hände und schüttelte sie mehrmals. Dann ließ er sie auf den Boden fallen. Sie zeigten drei und fünf Kreise.
„Zusammen ergibt das eine Acht. Jetzt du.“
Ich hob die Würfel auf und machte es Titus nach. Schütteln, fallen lassen ... und ... auf beiden Würfeln sechs Kreise!
„Heh! Du Glücklicher! Das ist dein erster Wurf und dann gleich zwei Glück verheißende Sechser. Eine Venus! Du hast gewonnen. Spielten wir jetzt um Geld, so wäre ich glatt einen Denar los. Fortuna steht dir offensichtlich bei!“
Ich lächelte ihn an, auch wenn ich wieder nur die Hälfte von dem verstanden hatte, was er in seiner freudigen Aufregung von sich gegeben hatte. Wir würfelten weiter und ich muss zugeben, dass mir das Spiel mehr und mehr gefiel.
„So vertreiben wir uns in Rom oder im Lager die Zeit. Die Soldaten spielen dabei jedes Mal um etwas. Manche sind durch die Würfel zu Bettlern geworden.“
Während sich draußen ein Sturm über unserem Land austobte, der kräftig an Giebel und Hausdach rüttelte, hockten Titus und ich auf den Robben- und Bärenfellen am wärmenden Herdfeuer, tranken heißen Brombeersaft und würfelten, als gäbe es nichts anderes auf der Welt.
Wir waren vollkommen in unser Spiel vertieft, als sich plötzlich die Tür öffnete und mein Vater mit drei weiteren Männern zu uns ins Haus gestürmt kam.
„Was macht ihr da? Zauberei?“, rief mein Vater noch völlig außer Atem.
„Das ist doch nur ein Spiel, Ramgar!“, erklärte meine Mutter. „Störe die Jungen nicht!“
„Spiel? Was für ein Spiel? Für mich sieht das viel eher danach aus, als beschwörten sie die Geister der Toten.“
„Das sind Würfel, Ramgar!“
„Was?“
„Würfel!“
„Ich weiß nicht, was du redest. Ich kenne so etwas nicht!“
„Titus hat es mir gezeigt. Das machen die Soldaten von Drusus auch“, warf ich hastig ein, bevor ich erneut die Würfel fallen ließ.
„Und das beschwört keine Geister?“
„Nein! Man kann nur gewinnen oder verlieren.“
„Was?“
Mein Vater starrte uns verständnislos an.
„Haus und Frau, die eigenen Kinder und den gesamten Besitz“, sagte Titus ganz ruhig.
„Was hat er gesagt?“, fragte Ramgar mich nervös.
Ich übersetzte Wort für Wort.
„Bei den Göttern“, entfuhr es daraufhin meinem entsetzten Vater. „Das ist ja elend!“
„Aber schau doch mal, Ramgar“, meinte jetzt Thoralf. „Es sieht ganz interessant aus. Es geht darum, wer mehr von diesen dunklen Kreisen auf diesen ... äh, Dingern wirft.“
„Meinst du wirklich?“
„Ja, ich glaube, er hat Recht“, mischte sich nun auch Birger ein. „Das könnte Spaß machen, wie man an den beiden Jungen sieht. Darf ich es auch mal versuchen?“
Ich fragte Titus und der hielt ihm die Würfel hin. Der Bann war gebrochen. Auf einmal wollten auch Ramgar und Thoralf mitspielen.
„Fein!“, sagte Titus zufrieden. „Mit mehreren Spielern macht es ohnehin mehr Spaß.“
Und so kam es, dass im Haus eines Friesen zum ersten Mal ein Würfelspiel stattfand. Alle waren am Ende begeistert, lachten, fluchten, wenn sie verloren, und klatschten sich auf die Schenkel bei einem guten Wurf.
„Und das spielen auch eure Soldaten, Titus?“
Mein Vater wollte es immer wieder von ihm hören.
„Ja, vor allem, wenn ihnen langweilig ist. Aber auch sonst.“
„Kann ich verstehen“, brummte Ramgar zufrieden und machte den nächsten Wurf ... Thoralf und Birger kreischten vor Vergnügen, denn Ramgar hatte zwei Einser gewürfelt – den Canis – und somit verloren.
Am Abend begleitete ich Titus zum Lager der Römer zurück. Es schneite erneut leicht und Titus zog seinen wollenen Kapuzenmantel enger um seinen schmalen Oberkörper. Wie fremd musste ihm unser raues Winterwetter doch sein!
„Warum ist dein Onkel nicht viel früher im Jahr mit seinen Schiffen zu uns aufgebrochen?“, fragte ich ihn.
„Ich glaube, er hat nicht damit gerechnet, dass es so schnell Winter werden könnte.“
„Da hätte er vorher mal besser meine Mutter Wilburga gefragt. Sie fühlt immer im linken Knie, wie hart uns Schnee und Eis treffen werden. Für dieses Jahr hat sie den Fimbulwinter vorausgesagt. Das bedeutet, dass es besonders schlimm für Mensch und Tier kommen wird.“
„Das wird meinem Onkel sicherlich nicht gefallen“, meinte Titus traurig.
„Unsere Sippe wird euch nicht im Stich lassen“, versuchte ich meinen Freund aufzumuntern. „Wir sind raue Tage an der Küste gewöhnt.“
Im Lager der Römer stießen wir auf Onne und den „kleinen Häuptling“ Menold.
„Na, wie war dein Tag bei den Römern?“, wollte ich von meinem älteren Bruder wissen.
„Wir haben ihnen gezeigt, wo man die fettesten Wildschweine jagt. Aber ich muss schon sagen, die Römer sind ziemlich ungeschickt im Gelände. Die Schweine haben sie schon von weitem gehört und sich im Unterholz versteckt. Aber ich habe die Tiere schließlich doch noch für sie aufgespürt“, berichtete Menold stolz. „Ohne mich wären die Männer verhungert. Und du, was hältst du von ihnen?“
„Sie kennen so vieles. Beispielsweise Würfeln und Wetten.“
Menold sah mich an, als ob ich mich plötzlich in Goldemar, den Zwergenkönig, verwandelt hätte. Er verstand kein Wort. Und so versuchte ich ihm und Onne auf dem Nachhauseweg mit viel Geduld zu erklären, was ich an diesem besonderen Tag gelernt hatte.
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