„Was ist?“ fragte Leni.
„Ganz still! Horch mal!“ Gundula hob die Hand.
Auch Leni spitzte jetzt ihre Ohren. Wirklich, sie hörte etwas – ein ganz feines Geschrei aus einiger Entfernung.
Gundula strahlte von einem Ohr bis zum anderen. „Das ist es“, sagte sie, „mein Brüderchen. Los … komm! Laufen wir! Jetzt finden wir es bestimmt!“
Sie eilten den Gang entlang und um die Ecke, das Geschrei wurde immer lauter, und endlich stellten sie fest, daß es aus einer breiten Tür mit einem großen Glasfenster kam. Sie hoben sich auf die Zehenspitzen und reckten die Köpfe, um durch das Fenster in das Zimmer hineinsehen zu können, aber das Glas war zu hoch.
„Halt still!“ sagte Gundula entschlossen. „Laß mich auf deine Schultern klettern. Nachher bist du dran!“
Leni machte aus den gefalteten Händen einen Korb für Gunduia, die schon ihr Bein hob, um hineinzusteigen – als die beiden Mädchen plötzlich eine Stimme hinter sich hörten.
„Hallo … was habt denn ihr hier zu suchen?“
Sie fuhren herum und sahen erschrocken in das blasse Gesicht einer jungen Krankenschwester.
„Wir … nichts! Nur …“ stotterte Gunduia.
Sie tauschte einen raschen Blick mit Leni, dann drehten sich beide auf dem Absatz um und stürmten davon.
Aber die Schwester dachte nicht daran, sie so einfach entwischen zu lassen. Sie hob ihre langen schweren Röcke ein wenig und rannte hinter ihnen her.
Hintereinander sausten Gunduia, Leni und die Krankenschwester wie die Wilde Jagd durch die stillen Gänge.
Dann passierte es. Das Linoleum war sehr glatt, und als Gunduia gerade wieder um eine Ecke sausen wollte, rutschte sie aus und fiel der Länge nach zu Boden. Leni konnte nicht mehr rechtzeitig stoppen und stolperte über sie.
Die Schwester mußte ihnen wieder auf die Beine helfen. Vorsichtshalber hielt sie die beiden gleich hinten beim Kragen fest, während sie mit ihnen sprach. „Also … was habt ihr hier zu suchen?“
Gundula war den Tränen nahe. „Ich …“, sagte sie mit kläglicher Stimme, „ich wollte doch nur mein Brüderchen sehen!“
„Ach so!“ Die Schwester blickte streng, aber um ihren Mund spielte ein Lächeln. „Das habe ich mir fast gedacht. Wie heißt denn dein Brüderchen?“
„Michael Sebastian. Darf ich es sehen? Wollen Sie es mir zeigen?“
Die Schwester schüttelte den Kopf. „Nein, das geht nicht …”, sagte sie und fügte dann bedauernd hinzu: „Leider. Es wäre gegen die Vorschriften.“
„Bitte, bitte, liebe Schwester, helfen Sie mir doch! Ich möchte es so gern sehen!“
„Das glaube ich dir schon. Aber ich darf es euch nicht zeigen. Ihr müßt ein bißchen Geduld haben. Ja, ich weiß, es ist vielleicht nicht so einfach … aber man muß viel Geduld im Leben haben. So ist es nun einmal. Wie heißt denn deine Mutter? Soll ich ihr einen Gruß von dir bestellen?“
„Lieber nicht … nein, sie würde sicher schimpfen.“
„Na schön, dann werde ich euch jetzt hinunterbringen. Oh, ich weiß schon, daß ihr auch allein gehen könnt, aber mir ist es doch lieber, ich bringe euch selber nach draußen.“
Die Schwester führte Gundula und Leni zum Aufzug. Überrascht stellten sie fest, daß es gar nicht sehr weit war. Dann fuhren sie alle zusammen nach unten, und die Schwester ließ es sich nicht nehmen, sie bis in die Empfangshalle hinauszubringen.
„Herr Lehmann“, sagte sie zu dem Pförtner, „bitte, schauen Sie sich diese zwei mal sehr gut an! Sie haben versucht, sich einzuschmuggeln … nein, ich mache Ihnen gar keinen Vorwurf, das konnten Sie ja nicht wissen. Aber schauen Sie sie gut an … ein zweites Mal möchte ich sie nicht einfangen müssen.“
Mit gesenkten Köpfen trabten Gundula und Leni davon. Es war ihnen gar nicht wohl zumute.
„Warum hast du nicht wenigstens dein Geschenk abgegeben?“ fragte Leni, als sie schon fast über der Brücke waren. „Die Schwester hätte es doch sicher …“
„Nein“, unterbrach Gundula sie, „mein Geschenk will ich meinem Brüderchen selber geben. Ich muß doch sehen, was es für Augen dazu macht.“
„Bist du noch traurig?“
„Nö“, behauptete Gundula. „Eigentlich … war’s nicht ganz lustig? Jedenfalls hätte ich nie gedacht, daß eine Krankenschwester so rennen könnte.“
Es war Samstag, und als Gundula aus der Schule kam, war der Vater schon zu Hause. Herr Berendt stand in der Küche und buk Pfannkuchen. Gundula schleuderte ihre Schulmappe rasch in ihr Zimmer und deckte den Tisch. Seit die Mutter im Krankenhaus war, aßen sie immer in der Küche, weil sie das bequemer fanden.
Gundula aß Pfannkuchen für ihr Leben gern, und der Vater sah ihr lächelnd zu, wie sie drei Stück verschlang.
„Es freut mich, daß es dir schmeckt“, sagte er, „nachher mußt du ja bei Kräften sein.“
Gundula riß die Augen auf. „Wozu?“
„Du weißt doch, daß morgen Mutter und das Brüderchen nach Hause kommen. Da gibt es noch allerhand zu tun. Mutter wollte das ja alles selbst machen.“
„Putzen, meinst du?“ fragte Gundula verständnislos. „Aber Frau Helmbrecht hat doch alles prima saubergemacht!“
„Umräumen, Gundel! Dein altes Kinderbett und die Wikkelkommode müssen wir vom Dachboden herunterholen.“
Gundula legte den Finger an die Nase. „Stimmt“, sagte sie, „daran habe ich gar nicht gedacht.“
„Eigentlich sollte dein Brüderchen in den ersten Wochen bei uns im Schlafzimmer schlafen. Gestern abend sprach ich noch einmal mit Mammi darüber. Sie meint, daß du ein großes und vernünftiges Mädel bist, und daß Michael gleich vom ersten Tag an mit in deinem Zimmer wohnen kann.“
Gundula machte einen Luftsprung. „Hurra! Ich bekomme ein richtig lebendiges Brüderchen. Andere Mädchen meiner Klasse müssen immer noch mit Puppen spielen. Aber … mein Zimmer ist doch viel zu klein!“ sagte sie. „Das reicht gerade eben für mich!“
„Natürlich mußt du dich ein bißchen einschränken, Gundel, das wissen wir“, sagte der Vater, „aber bestimmt ist Platz genug für euch beide! Und ich bin sicher, es wird dir sogar Spaß machen, den kleinen Kerl bei dir im Zimmer zu haben. Warte nur ab, du wirst es schon sehen.“
Gundula deckte den Tisch ab, spülte und stellte das Geschirr in das Drahtgestell zum Trocknen. Dann machte sie das Spülbecken sauber und fegte die Küche aus. Herr Berendt blieb währenddessen am Tisch sitzen und las in der Zeitung, die heute, am Samstag, besonders dick war.
Als Gundula fertig war, hob er den Kopf und fragte: „Na, bist du soweit?“
Gundula nickte.
Herr Berendt faltete die Zeitung zusammen und stand auf. „Dann wollen wir mal! Ich denke, wir klettern zuerst mal nach oben und holen dein altes Kinderbett und die Wickelkommode herunter.“
Der Dachboden war nur schwach beleuchtet, es roch nach Staub und Mottenpulver. Gundula hatte nur selten Gelegenheit, hier heraufzukommen, und sie fand es sehr aufregend. Am liebsten hätte sie noch lange unter den alten ab gestellten Sachen herumgewühlt.
Aber Herr Berendt sagte mahnend: „Komm schon, Gundel … wir haben nicht soviel Zeit!“ Er hatte das zusammengeklappte Gitterbett gefunden und bis zur Treppe gebracht.
„Hier ist noch etwas, Pappi“, rief Gundula aufgeregt. „Sieh mal, ein Kinderstühlchen! Mit einem Loch im Sitz und einem Töpfchen unten drinnen! Sollen wir das nicht auch mit runternehmen?“
Herr Berendt schüttelte den Kopf. „Das wäre noch ein bißchen zu früh, Gundel. Es wird noch eine ganze Zeit dauern, bis dein Brüderchen aufs Töpfchen geht. Komm jetzt her zu mir! Ich nehme die Gitter und die Matratze, nimm du das Unterteil des Bettgestells, damit wir nicht noch ein zweites Mal heraufgehen müssen.“
Im Badezimmer wusch Gundula das Bettgestell, das sehr verstaubt war, erst gründlich mit Seifenlauge ab. Währenddessen klopfte ihr Vater die Matratze auf dem Küchenbalkon aus.
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