Marie-Louise Fischer
SAGA Egmont
Gundula
Gundula (Band 1)
Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, ( www.marielouisefischer.de) represented by AVA international GmbH, Germany ( www.ava-international.de)
Originally published 1960 by F. Schneider, Germany
Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof Forlag A/S
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ISBN: 9788711719473
1. Ebook-Auflage, 2017
Format: EPUB 3.0
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Gundula erwachte davon, daß ihr ein Sonnenstrahl genau auf die Nasenspitze fiel. Sie mußte niesen und schlug die Augen auf.
Sofort merkte sie, daß irgend etwas anders in der Wohnung war als sonst. In ihrem Zimmer war nichts verändert, und dennoch – irgend etwas war seltsam. Es dauerte eine ganze Weile, bis Gundula drauf kam, was sie störte – es war so still in der Wohnung, viel stiller als sonst.
Gewöhnlich, wenn Gundula morgens aufwachte, hörte sie das Klappern von Tellern und Tassen aus der Küche, wo die Mutter schon den Tisch deckte. Sie hörte auch das Brausen des Wasserhahnes, wenn der Vater sich rasierte. Aber heute morgen gab es nicht den leisesten Laut.
Gundula erschrak und wußte selber nicht, warum. Sie schwang die Füße über die Bettkante, war mit einem Satz auf dem weichen Teppich, rannte barfuß zur Tür.
„Mammi …!“ rief sie. „Pappi …!“
Sie riß die Tür zur Diele auf, blieb einen Augenblick lauschend stehen. Es kam keine Antwort.
Gundula raste ins Elternschlafzimmer – die Betten waren benützt, aber weder Vater noch Mutter waren zu sehen. Auch das Badezimmer war leer, genau wie die Küche und das große Wohnzimmer. Die Eltern waren fort. Sie hatten Gundula allein gelassen.
Noch nie, soweit Gundula zurückdenken konnte, war so etwas geschehen. Sie war schon manchmal allein in der Wohnung geblieben, nachmittags, wenn die Mutter einkaufen und der Vater noch auf der Bank war, oder abends, wenn die Eltern ins Kino gingen, aber daß sie morgens aufwachte und die Wohnung leer fand – das war einfach unfaßbar. Um ein Haar wäre Gundula in Tränen ausgebrochen.
Aber dann riß sie sich zusammen. Weinen, das wußte sie aus Erfahrung, hatte nur einen Sinn, wenn jemand da war, der einen trösten konnte. Ganz allein in einer leeren Wohnung zu sitzen und zu weinen, das war dumm. Viel besser war es, zu überlegen, wohin die Eltern gegangen sein konnten.
Gundula zerbrach sich den Kopf, aber ihr fiel beim besten Willen nichts ein. Dann kam ihr eine Idee. Vielleicht hatten die Eltern ihr, bevor sie fortgingen, eine Nachricht hinterlassen? Bestimmt hatten sie das. Aber wo?
Gundula sah auf Vaters Schreibtisch nach, auf dem Küchentisch, auf den Nachttischen ihrer Eltern – dabei fiel ihr Blick zufällig auf die Weckeruhr, und sie erschrak ein zweites Mal. Es war gleich halb acht, und sie war noch nicht angezogen. Wie konnte sie es da schaffen, rechtzeitig in der Schule zu sein?
Oder war die Schule heute vielleicht überhaupt gar nicht so wichtig? Gundula legte nachdenklich den Finger an die Nase. Mußte man in die Schule gehen, wenn die Eltern verschwunden waren?
In diesem Augenblick hörte sie von der Diele her ein Geräusch. Sie fuhr herum, lauschte mit angehaltenem Atem. Tatsächlich, es klang geradeso, als wenn die Wohnungstür aufgeschlossen wurde.
Gleich darauf erkannte sie auch schon die Stimme des Vaters: „Hallo, Gundel … wo steckst du denn?“
Mit einem Aufschrei der Erleichterung rannte Gundula in die Diele hinaus und warf sich dem Vater in die Arme. Dabei sah sie noch im Spiegel einen großen Zettel stecken. Mit einer Nachricht für sie. Aber die war ja jetzt nicht mehr wichtig.
Einen Augenblick hielt Herr Berendt seine Tochter ganz fest, dann schob er sie ein wenig von sich, betrachtete prüfend ihr Gesicht. „Sag mal, Gundel, du hast doch nicht etwa Angst gehabt?“
„Nein, überhaupt nicht“, behauptete Gundula rasch, „nur … mir war so komisch.“ Sie rieb sich mit der Hand über die Magengrube. „Hier drinnen … so, als wenn ich einen Frosch verschluckt hätte!” Sie riß die Augen auf. „Sag mal … aber wo ist eigentlich Mammi?“
„Gundel, aber höre … kannst du dir das wirklich nicht denken?“
„Nein“, sagte Gundula unsicher, „müßte ich das wissen?“
„Eigentlich schon. Schließlich bist du ja ein großes Mädchen von fast elf Jahren … unsere große Tochter! Wir haben doch …“
Herr Berendt kam nicht dazu, seinen Satz zu Ende zu sprechen. Gundula machte einen Luftsprung und schrie: „Ist es da? Ist es wirklich da?!“
„Ja, Gundel“, sagte Herr Berendt lächelnd, „heute nacht hast du ein Brüderchen bekommen.“
„Toll!“ Gundula war tief beeindruckt. „Toll, jetzt werden alle staunen, wenn ich es ihnen erzähle – oder brauche ich heute gar nicht in die Schule zu gehen? Zu spät komme ich ja sowieso schon.“
„Hast du schon gefrühstückt?“ fragte der Vater.
Gundula schüttelte heftig den Kopf mit den kurzgeschnittenen blonden Locken. „Nö!“
„Dann werde ich dir rasch eine Tasse Kakao machen … und du ziehst dich währenddessen an. Weißt du, lernen ist nämlich immer wichtig, auch wenn man ein Brüderchen bekommen hat. Gerade dann. Wenn wir jetzt bald ein Baby im Hause haben, dann mußt du ganz besonders vernünftig sein, Gundel.“
„Wann kommt es? Wann kann ich es sehen?“
„Zieh dich jetzt erst einmal an“, sagte der Vater, „beim Frühstück werde ich dir alles erklären.“
Gundula raste in ihr Zimmer und schlüpfte in Windeseile in ihre Sachen. Vor lauter Aufregung vergaß sie ganz, sich zu waschen, aber ein einziges Mal konnte das doch nicht so schlimm sein. Immerhin ging sie, als sie fix und fertig war, ins Badezimmer und putzte sich die Zähne.
Der dampfende Kakao stand schon auf dem Tisch, als Gundula in die Küche kam. Der Vater war gerade dabei, ihr ein Brötchen mit Butter zu bestreichen.
„Na, das ist aber fix gegangen“, sagte er und musterte sie ein wenig mißtrauisch.
„Klar“, sagte Gundula rasch, „ich soll doch ganz besonders vernünftig sein, hast du gesagt! Deshalb habe ich mich beeilt, damit ich so schnell wie möglich in die Schule komme.“
„Großartig!“ Herr Berendt lächelte. „So brennend vor Fleiß habe ich dich noch nie erlebt.“
„Es ist ja auch das erste Mal, daß ich ein Brüderchen bekomme!“ Gundula biß in die eine Hälfte des Brötchens. „Also … wann kann ich es sehen?“
„Ein bißchen Geduld mußt du schon noch haben, Gundel. Mutter muß noch eine Weile … vielleicht acht Tage … im Krankenhaus bleiben!“
„Warum?“ fragte Gundula mit vollem Mund.
„Ja, so ein ganz kleiner Säugling, Gundel, der ist noch sehr zart, weißt du. Man muß auf ihn aufpassen, er braucht viel Sorgfalt und Pflege … und das hat er natürlich am besten im Krankenhaus.“
„Ist er denn krank?“
Herr Berendt schüttelte den Kopf. „Nein. Ganz gesund, glücklicherweise. Aber trotzdem …“
„Dann werde ich Mammi und das Brüderchen im Krankenhaus besuchen“, erklärte Gundula entschlossen.
„Ich fürchte, das wird auch nicht gehen!“
„Nicht?“
„Nein. Ich habe mich schon erkundigt. Der Besuch von Kindern auf der Wöchnerinnenstation – weißt du, so nennt man die Abteilung des Krankenhauses, wo die Mütter mit den Säuglingen liegen –, also auf der Wöchnerinnenstation ist der Besuch von Kindern verboten.“
„So eine Gemeinheit!“ sagte Gundula aus tiefstem Herzen.
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