Als er in die Bismarckstraße einbog, heulte fernher schon eine Sirene.
Karl Kühne fluchte abermals in sich hinein, und seine Beine griffen stärker aus. Wahrhaftig schon halb sechs! Um sechs begann seine Schicht. Keine Zeit mehr, um schnell nach Hause zu laufen. Mußte heute schon mal ohne Kaffee und Frühstück gehen.
Ein paar Nachtbummler kamen ihm entgegen, den Mantelkragen hochgeschlagen. Bald aber überholte er andere Gestalten, die mit gleichmäßigen, schweren Schritten vorwärts wanderten: Kumpels, die mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern zur Zeche gingen. Ehe er das Zechentor erreichte, war schon aus den einzelnen Gestalten ein langsam dahinwogender Zug geworden.
Kopf unter die Brause in der Waschkaue! Die Sonntagskleider vom Leibe gerissen und im Kleidersack hochgezogen, die Arbeitskluft an!
„Karl hat ordentlich einen sitzen,“ flachste ein schnauzbärtiger Hauer neben ihm, als er unter der kalten Dusche prustete. „Kommt in seine Sonntagsklamotten zur Schicht!“
Die Kumpels lachten. „Na ja, so’n Junggeselle kann sich dat leisten,“ brummte ein anderer neidisch. „Der braucht nich Muttern seinen Abschlag abzugeben wie unsereins.“
Ah! Wie gut das kalte Wasser tut! Die Nachtgespenster verflogen. War aber auch die höchste Zeit. Stahl klang auf Messing: Fünf Schläge. Die Seilfahrt begann.
*
Erst unten vor Ort traf Karl Kühne seinen Schlepper. Der kleine Dombrowski war heute in vorzüglicher Laune.
„War sich sehr schöner Sonntag, Kumpel. Hab ich Mädchen kennen gelernt in der ‚Alten Kanone‘, sehr schönes Mädchen. Hat alles bezahlt. Nachher sind wir dann noch zu Kumpel Sartori gegangen, haben Karten gespielt. Ein Glück hab ich gehabt!“ Das verwitterte Arbeitergesicht Dombrowskis strahlte. „Ein König — stech ich mit Bube! In der Hand noch drei Trumpf, ein As ...“
„Du, Stanis!“ Karl Kühne ließ einen Augenblick die Spitzhacke sinken und wehrte den erinnerungsseligen Redestrom des Schleppers ab. „Ich will dir mal was sagen.“
„Was denn, Kumpel?“
Karl Kühne spuckte kräftig aus.
„Ich hau in den Sack, Stanis! Ich mach nicht mehr mit hier unten! Ich will rauf, verstanden! Über Tage! In die Sonne!“
Der kleine Pole sah einen Augenblick grübelnd zu dem Hauer auf, grinste dann friedlich.
„Wär sähr schön, Kumpel. Wirst du aber bleiben. Will ich dir sagen, Karl: Wer einmal hier unten ist, kommt nicht mehr herauf an Soonne!“
„So! Dat ... wollen wir ... doch mal ... sehen!“ Karl Kühne faßte wieder sein Gezähe und schuftete drauf los, daß ihm die Berge um die Ohren rasselten.
„Wo haben Sie denn Ihren Mantel, Kühne?“
Der Steiger Kaminski schob mit dem Fuß die losgehauenen Kohlenstücke beiseite und sah den Hauer spöttisch überlegen an. „Wenn Sie, wie ich höre, im Sonntagsstaat zur Schicht kommen, hätten Sie ja auch Ihren Mantel mitnehmen können, nicht?“
Karl Kühne stieg das Blut in den Kopf. „Halt die Schnauze, Kaminski,“ sagte er kurz und hieb von neuem auf das Gestein ein.
„Immer langsam.“ Der Steiger bezwang seine innere Wut und spielte weiter den Überlegenen. „Ich mein es doch nicht schlecht mit Ihnen. Hätte gern gestern nachmittag ein Glas mit Ihnen getrunken, Kühne, aber Sie waren ja auf einmal verschwunden. Da hab ich ja nun mit Fräulein Paula und dem alten Becker vorlieb nehmen müssen.“
„Von mir aus können Sie mit der Paula Hochzeit halten,“ knurrte Karl über die Schulter zurück. Kaminski knackte mit den Fingern.
„Natürlich, Kühne. Wenn man, wie Sie, was Besseres auf der Gabel hat, nicht? Ich meine, wenn man mit vornehmen Damen im Bergwerk spazieren geht ... Was ist das eigentlich für ’ne Schweinerei,“ fuhr er plötzlich den kleinen Dombrowski an, der ihm aus Versehen auf die Stiefel gespuckt hatte. „Ihr schlaft wohl heut hier unten euren Katzenjammer aus? Schon zehn Uhr, und ihr habt erst die Hälfte von dem gefördert, was sonst euer Quantum ist!“
„Ist sehr schwer, Steiger,“ wagte der Pole einzuwenden. „Müssen heute viel Berge herausklauben. Und die Kohle ist ganz zerdrückt.“
„Dann habt ihr eben schlecht versetzt! Ihr müßt ...“
„Nun ist’s aber genug!“ Karl Kühne drehte sich plötzlich um und trat mit wutverzerrtem Gesicht dicht vor den Steiger hin. „Daß Sie mich flachsen wollen, Kaminski, kann angehen, aber auf unsere Arbeit laß ich nix kommen. Ich versteh meinen Kram hier ebensogut wie Sie!“
Der Steiger wurde blaß vor Wut. „Einen Dreck verstehen Sie! Von allen Kameraden fördert ihr am wenigsten! Weil ihr faule Hunde ...“
Die Ohrfeige, die Karl Kühne dem Steiger versetzte, kam so schnell und war so wuchtig, daß Kaminski gegen die Felswand flog. Erst der Schmerz des Anpralls brachte ihn wieder zu sich. Eine Sekunde schien es, als wollte er sich über Karl werfen und mit ihm ringen, aber er besann sich noch rechtzeitig und suchte seine Fassung wiederzugewinnen.
„Das ist tätlicher Angriff auf einen Vorgesetzten,“ keuchte er. „Sie sind entlassen, Kühne! Holen Sie sich im Büro sofort Ihren Lohn und Ihre Papiere!“
Er wartete keine Antwort ab, sondern stiefelte den Stollen entlang zum Schacht. Auf seiner Wange brannte racheheischend ein roter Fleck.
Der Schlepper Dombrowski wischte sich betrübt mit der Hand über den Schnurrbart und schüttelte den Kopf.
„Was hast du gemacht, Kumpel? Der Jagdhund wird dich verklagen. Wirst gehen müssen. Einen Steiger schlagen, das ist ...“
„’n sofortiger Entlassungsgrund,“ nickte Karl. „Na, dann such ich Arbeit in ’nem anderen Pütt.“
„Ist sehr schwer heute, Kumpel. Schade. Wo wir doch so gut zusammen gearbeitet haben!“ Treuherzig, etwas verlegen sah er den Kameraden an. „Soll ich auch in den Sack hauen, Kumpel, und mitkommen?“
„Nee, bleib man, Dombrowski. Ich weiß noch gar nicht ...“ Karl dachte an die Wandersehnsucht, die ihm in den Knochen steckte. Es war dumm, daß er sich zu der Ohrfeige hatte hinreißen lassen. Fällig war sie zwar längst, aber er ärgerte sich doch über sich selbst. Aber vielleicht sollte das so kommen. Wenn er jetzt entlassen wurde, dann — ja, dann mußte er sich ja nach anderer Arbeit umsehen. Denn hier im Bergbau war wenig zu machen. Darin hatte Dombrowski recht. Die Arbeitslosigkeit war noch immer groß. Tausende von Kumpels lungerten um die Stempelstellen.
Karl Kühne packte sein Gezähe zusammen, lud den kleinen Dombrowski für den Abend zu einem Abschiedsglas ein und zog ab durch die Stollen.
Oben im Lohnbüro schüttelte der Beamte ärgerlich den Kopf. „Was sind das für Sachen, Kühne! Mag schon sein, daß der Steiger Kaminski Sie gereizt hat, aber da darf man doch nicht gleich ... nee, nee, so was dürfen wir hier nicht einreißen lassen. Ich muß Ihnen die Papiere geben. Das heißt, gehen Sie heut mal ruhig nach Hause. Ich werde erst noch mal den Kaminski fragen. Wenn er nicht drauf besteht ...“
„Fragen Sie ihn lieber nicht erst,“ sagte Karl gelassen. „Ich geh schon so.“
*
Der Empfang, den Karl Kühne daheim fand, war nicht geeignet, seine Stimmung zu verbessern. Ein Bergmannskind wie Paula Becker weiß natürlich sofort, was los ist, wenn ein Kumpel gesund und munter vormittags um 11 Uhr, drei Stunden bevor seine Schicht um ist, mit Sack und Pack heimkommt.
Entlassen!
Sie war schon bereit gewesen, es dem Karl zu verzeihen, daß er sie gestern abend umsonst hatte warten lassen, sie und die leckeren Kartoffelpuffer. Verheiratet waren sie ja nicht, und ein Mann hat ja wohl das Recht, sich einmal eine Nacht um die Ohren zu schlagen. Kam ja selten genug vor bei Karl Kühne, und vielleicht war’s ganz gut, daß er sich den Ärger heruntergespült hatte. Aber als sie ihn jetzt ankommen sah und sofort wußte, daß er seine Arbeit verloren hatte, schwand die versöhnliche Stimmung wieder dahin. Sie sah ihm mit gerunzelter Stirn entgegen.
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