2. Die Haftung nach den Grundsätzen der Produzentenhaftung
Gem. § 15 Abs. 2 ProdHG werden Schadensersatzansprüche aufgrund anderer, außerhalb dieses Gesetzes liegender Vorschriften nicht ausgeschlossen. Dies hat zur Folge, dass die von Rechtsprechung40 und Schrifttum aus § 823 Abs. 1 BGB unter dem Gesichtspunkt der Verletzung der Verkehrssicherungspflicht entwickelten Grundsätze über die Produzentenhaftung anwendbar bleiben. Es ist zwischenzeitlich wohl auch unstrittig, dass die Produzentenhaftung in softwarebezogenen Fällen Anwendung findet und der für das ProdHG relevante Streit über die Sachqualität von Computersoftware hier dahingestellt bleiben kann.41
Nach den Grundsätzen der Produzentenhaftung stellt das Inverkehrbringen eines fehlerhaften Produkts eine haftungsbegründende Handlung des Herstellers dar, gleichwie der Verstoß gegen die dem Hersteller obliegende Verkehrssicherungspflicht die erforderliche Rechtswidrigkeit begründet. Im Gegensatz zur Haftung nach dem ProdHG ist die Produzentenhaftung verschuldensabhängig, allerdings mit einer Beweislastumkehr zulasten des Herstellers, der beweisen muss, dass ihn an dem Fehler kein Verschulden trifft.42 Zwecks Systematisierung der vom Hersteller zu beachtenden Sorgfaltsanforderungen wird üblicherweise eine Typisierung in Konstruktionsfehler, Fabrikationsfehler, Instruktionsfehler sowie eine Verletzung der sog. Produktbeobachtungspflicht vorgenommen, wobei hinsichtlich der drei erstgenannten Fehlertypen nicht nur ein terminologischer, sondern auch ein inhaltlicher Gleichklang zum ProdHG zu verzeichnen ist,43 weshalb insoweit auf die oben dargelegten Erläuterungen verwiesen werden kann.
In Bezug auf die den Hersteller treffenden Produktbeobachtungspflichten ist zu beachten, dass nach dem ProdHG eine Änderung des Standes von Wissenschaft und Technik zwischen dem Zeitpunkt des Inverkehrbringens und dem Schadenseintritt unerheblich ist und keine Haftung nach § 1 Abs. 1 ProdHG auslöst.44 Demgegenüber muss der Hersteller nach den Grundsätzen der Produzentenhaftung ab dem Zeitpunkt des Inverkehrbringens nicht nur die eigenen Produkte beobachten, sondern auch solche Fremdprodukte, die als Zubehör für die eigenen Erzeugnisse in Betracht kommen. Hierbei sind etwa auch Fachzeitschriften und sonstige Veröffentlichungen zu berücksichtigen.45 Die Hersteller von Software sind vor dem Hintergrund immer wieder neuer Sicherheitslücken in besonderem Maße zur Marktbeobachtung verpflichtet.46 Sofern zuvor unbekannte schädliche Eigenschaften oder sonstige eine Gefahr begründende Verwendungsfolgen bekannt werden, trifft den Hersteller die Pflicht, Produktbenutzer entsprechend zu warnen.47 Aus der Produktbeobachtungspflicht kann daher eine zeitlich nach dem Inverkehrbringen entstehende zusätzliche Instruktions- oder Warnpflicht folgen, in besonderen Fällen, in denen eine Warnung als nicht ausreichend für die Beseitigung der Gefährdung erscheint,48 kann auch eine Rückrufpflicht49 oder eine Pflicht zur kostenlosen Beseitigung der Gefährdung bestehen, etwa in Gestalt eines kostenlosen Austauschs. Im Rahmen des Zumutbaren kann den Softwarehersteller daher eine Pflicht zur Bereitstellung von Programmupdates treffen, jedoch steht einem Anwender grundsätzlich kein individueller Anspruch auf Beseitigung einer Sicherheitslücke durch ein Update zu.50
Softwarebezogene Beispiele für das Eingreifen der Produktbeobachtungspflicht sind bislang allenfalls vereinzelt bekannt geworden.51 Der bereits an anderer Stelle erwähnte Fall der Weiterverbreitung virenverseuchter Computersoftware durch den Fachverlag einer Computer-Zeitschrift52 kann als Beispiel dienen, wenn man unterstellt, es habe sich um einen zuvor unbekannten Virus gehandelt, der nach dem Stand der Prüftechnik im Zeitpunkt des Inverkehrbringens nicht zu erkennen war. In jedem Fall bewirkt die Produktbeobachtungspflicht des Herstellers, dass dieser die Anwender über die drohenden Gefahren unverzüglich warnen muss. Insoweit ist bei weitverbreiteten Produkten eine Information aller wichtigen Computerzeitschriften zu verlangen. Darüber hinaus muss der Hersteller aber auch die bei ihm registrierten Anwender direkt informieren, gegebenenfalls eine telefonische Kunden-Hotline einrichten,53 ein entsprechendes Viren-Suchprogramm verbreiten54 oder ein fehlerbereinigtes Update kostenlos zur Verfügung stellen und entsprechende Informationen und Programme in den einschlägigen Foren der Datennetze anbieten.55 All dies hat Taeger in seiner Habilitationsschrift bereits ausgeführt.56
Diese Beispiele verdeutlichen, dass die verschuldensabhängige Produzentenhaftung nach § 823 Abs. 1 BGB im Einzelfall gegenüber dem ProdHG das schärfere Haftungsinstrument darstellt.57 Erwähnt werden muss an dieser Stelle aber noch, dass die Produktbeobachtungspflicht nach der Rechtsprechung des BGH nicht mit einer Beweislastumkehr verbunden ist, weil diese nur bei Konstruktions-, Fabrikations- und (ursprünglichen) Instruktionsfehlern eingreift.58 Dementsprechend muss der Geschädigte die schuldhafte Verletzung der Produktbeobachtungspflicht seitens des Herstellers beweisen.59
Sind mehrere Hersteller zum Rückruf verpflichtet, etwa der Hersteller eines Programmmoduls sowie der Hersteller des darauf aufsetzenden Gesamtpakets, ist zwischen diesen ein Gesamtschuldnerausgleich nach § 426 BGB durchzuführen, wobei als Verteilungsmaßstab analog § 254 BGB die jeweiligen Verschuldens- und Verursachungsbeträge heranzuziehen sind.60
III. 25 Jahre nach der Habilitationsschrift
Obwohl dem aufmerksamen Leser sicher nicht entgangen ist, dass die Taeger’-schen Gedanken, Argumente und Lösungsvorschläge nach wie vor fast durchweg Gültigkeit haben, kann eine Notwendigkeit zur Weiterentwicklung des Computerrechts anno 1995 zum modernen Informationsrecht des Jahres 2020 nicht verkannt werden. Diese Weiterentwicklung allein auf eine gewandelte Terminologie zu reduzieren wäre sicherlich zu kurz gegriffen. Nicht richtig wäre demgegenüber aber auch, von vollständig neuen technischen Entwicklungen auszugehen.
Schon vor 25 Jahren wurde die Körperlichkeit der Software vor dem Hintergrund verschiedener Rechtsfragen diskutiert, insbesondere, ob eine „datenträgerlose Übergabe“ eines Computerprogramms dazu führt, die Sacheigenschaft zu verneinen, die Einordnung als Kauf abzulehnen und dem Programm auch die Eigenschaft als Produkt im Sinne des § 2 ProdHG abzusprechen. Taeger argumentierte im Hinblick auf diese letztgenannte Fragestellung,61 nach dem Gesetzeszweck sei darauf abzustellen, dass der Softwareanbieter mit der Übergabe eines unsicheren Programms eine Gefahrenquelle beim Kunden eröffnet habe. Produkthaftungsrechtlich sei es unerheblich, ob das fehlerhafte Programm auf einem vom Hersteller übergebenen Datenträger verkörpert war und dann im System des Anwenders installiert wurde oder ob das Computerprogramm auf elektronischem Wege direkt im Zielrechner des Anwenders installiert wurde. Für die Anwendbarkeit des ProdHG sei nicht erforderlich, dass der Programmhersteller bereits in seinem eigenen Herstellungsbereich das Programm auf einem Datenträger aufbringe. Jedes andere Ergebnis würde im Übrigen auch dazu führen, dass den Herstellern von Computerprogrammen mit der körperlosen Übergabe eine Flucht aus der Produkthaftung möglich wäre.
Diese Gedanken müssen unter Berücksichtigung der technologischen Weiterentwicklung fortgeführt werden.
Richtig ist zunächst, mit Taeger eine einheitliche Zuordnung zum Produktbegriff des § 2 ProdHG zu fordern, unabhängig davon, ob Software auf einem körperlichen Trägermedium geliefert oder unkörperlich überlassen wird.62 Hier wird man aber nicht stehen bleiben können. Im Zeitalter schneller Datenverbindungen wird der Nutzer die Software immer häufiger überhaupt nicht auf seine eigene Hardware herunterladen, sondern lediglich im Wege der Telekommunikation auf die Software zugreifen, die auf dem Server des Anbieters verbleibt und dort abläuft. Die Bedeutung des Vorrätighaltens auf eigener Hardware schwindet. Dennoch eine haftungsrechtliche Differenzierung zwischen datenträgergebundener und nicht datenträgergebundener sowie stationärer oder Online-Nutzungsermöglichung zu treffen, erscheint willkürlich und auch im Ergebnis nicht überzeugend.63
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