Andreas Wiebe
Dr., LL.M., Universitätsprofessor für Bürgerliches Recht, Wettbewerbs- und Immaterialgüterrecht, Medien- und Informationsrecht, Direktor Institut für Wirtschafts- und Medienrecht, Georg-August-Universität Göttingen
1. Teil Bürgerliches Recht
Außervertragliche Haftung für fehlerhafte Computerprogramme – Taeger 25.0
Jochen Marly
Ein Beitrag über die außervertragliche Haftung für fehlerhafte Computerprogramme in einer Festgabe für Jürgen Taeger ist nicht unproblematisch. Der Jubilar hat zu diesem Thema seine Habilitationsschrift1 verfasst, deren Vorwort er im April 1995 unterzeichnete, also vor fast exakt 25 Jahren. Es steht deshalb auf der einen Seite zu befürchten, dass schon vor einem Vierteljahrhundert alles gesagt wurde, was es zu diesem Thema zu sagen gibt. Was könnte einer Monographie hinzugefügt werden, die so überzeugend war, dass sie gar keinen nennenswerten Raum für Diskussionen ließ, sondern allenfalls für ehrfürchtige Wiederholung? Auf der anderen Seite erscheint es durchaus reizvoll und möglicherweise sogar gewinnbringend, das Thema nach so langer Zeit nochmals aufzugreifen. Im vorliegenden Beitrag kann es daher im ersten Schritt nur darum gehen, einige Gedanken im Sinne einer eher rückblickenden Überprüfung zu äußern und (möglicherweise) eine Anpassung und Vervollständigung an technische Weiterentwicklungen zu geben. Erst im Anschluss hieran wird erkennbar sein, ob neue Überlegungen angestellt werden müssen.
Vor dem Hintergrund dieser Vorüberlegungen scheint ein Beginn der Untersuchung mit einem als „ Taeger’sche Grundlagen“ zu benennenden Teil und daran anschließend ein mit „25 Jahre nach der Habilitationsschrift“ zu betitelnden Teil zielführend. Infolge der Vielgestaltigkeit des Untersuchungsgegenstands sowie natürlich insbesondere auch der großen Untersuchungsbreite der Habilitationsschrift Taegers dürfte es für einen kurzen Beitrag wie den vorliegenden selbstredend sein, dass keine umfassende Auseinandersetzung mit allen Aspekten und Detailfragen erfolgen kann. Vielmehr ist eine Beschränkung auf einige zentrale Punkte zwingend notwendig.
II. Die Taeger’schen Grundlagen
Wie vor 25 Jahren üblich begann auch der Jubilar seine Ausführungen zur außervertraglichen Haftung für Computerprogramme mit einem Kapitel über die technischen Voraussetzungen und Begriffe rund um die Computertechnologie. Bemerkenswert ist diesbezüglich, dass der einleitende Satz zum Gegenstand der Untersuchung zwar mit den Worten „die elektronische Datenverarbeitung“ beginnt und damit hoffnungslos überholt zu sein scheint. Tauscht man aber einige wenige Begriffe wie etwa EDV gegen modernere Termini wie Informationstechnologie oder kurz IT aus, dann bemerkt man, dass die Taeger’schen Ausführungen in der Sache nach wie vor zutreffen und selbst derzeit intensiv diskutierte Entwicklungen wie die KI-Forschung von ihm bereits (kurz) erwähnt wurden.
Noch bemerkenswerter und fast erschreckend aktuell sind die Ausführungen im zweiten Kapitel des ersten Teils der Taeger’schen Habilitationsschrift zum Risikopotenzial von Computerprogrammen. Wenn dort zu lesen steht, „Computerfehler können also dramatische Folgen haben. Angesichts der Komplexität der Systeme, der weltweiten Vernetzung und der Einbindung der Elektronischen Datenverarbeitung in Hochtechnologien wie Flugzeuge ... können durch Programmfehler Rechtsgüter verletzt und Schäden erheblichen Ausmaßes herbeigeführt werden“, dann schießt dem Leser des Jahres 2020 schlagartig das Wort Boeing 737 Max in den Kopf.
Der Airbus-Rivale Boeing ist nach zwei verheerenden Flugzeugabstürzen wirtschaftlich angeschlagen wie nie zuvor. Am 29.10.2018 war eine neue Boeing 737 MAX 8 der Lion Air in Indonesien abgestürzt. Bei diesem Unfall waren 189 Todesopfer zu beklagen. Am 10.3.2019 kam es zum Absturz einer Boeing 737 MAX 8 der Ethiopian Airlines. Bei diesem Absturz sind 157 Menschen gestorben. Als entscheidende Ursache der Unglücke gilt nach derzeitigem Ermittlungsstand eine fehlerhafte Steuerungsautomatik der Boeing-Flugzeuge. Dieses sogenannte MCAS-System (Manoeuvering Characteristics Augmentation System) – das ein Überziehen des Flugzeuges im manuellen Betrieb und damit einen Strömungsabriss bei einem Anstellwinkel größer als 14° verhindern soll – drückte die Nase der Flugzeuge nach unten, obwohl gar kein zu großer Anstellwinkel vorlag und obwohl die Piloten rechtzeitig und mehrfach versuchten, die Nase des Flugzeugs nach oben zu ziehen, um einen ordnungsgemäßen Steigflug durchzuführen. Der Boeing-Konzern steht mittlerweile im Verdacht, die Flieger im scharfen Wettbewerb mit Airbus und aus Profitgier überstürzt auf den Markt gebracht und dabei die Sicherheit vernachlässigt zu haben. Bei einer von Boeing avisierten Freigabe der 737 MAX zur Jahresmitte 2020 ist mit Belastungen von mindestens 30 Milliarden Dollar zu rechnen. Fehlende Auslieferungen bereits produzierter Flugzeuge, ein Produktionsstopp, die Rezertifizierung für die Wiederfreigabe durch die Luftfahrtbehörden und Opferentschädigungen sowie die Kompensation von Kunden und Zulieferern dürften Boeing teuer zu stehen kommen.
Geradezu erschreckend ist aber für den hier vorgelegten Beitrag, dass Taeger im Zusammenhang mit dem Haftungsausschluss für Entwicklungsrisiken ein weiteres Beispiel anführte: „So kann das Computerprogramm, das ein modernes Düsenflugzeug steuert und sogar die manuelle, mechanisch wirkende Korrektur durch Piloten nicht mehr zulässt, dann versagen, wenn ein Passagier während des Fluges (verbotenerweise) sein Funktelefon benutzt, dessen elektromagnetische Strahlung das Steuerungsprogramm so beeinflusst, dass es zum Absturz kommt.“2 Selbst wenn man berücksichtigt, dass die beiden Boeing 737 MAX nicht durch Funktelefone zum Absturz gebracht wurden, stellt sich hier fast die (definitiv unpassende) Frage, ob Taeger Interna von Boeing kannte oder kennt. Auch wenn Taeger im Rahmen seiner Monographie vornehmlich die „EDV-spezifischen Risiken für den Anwender“ und nicht etwa die Kompensation von Zulieferern in den Fokus seiner Betrachtung stellte, zeigt dies doch, wie aktuell das Thema immer noch ist.
Mit dieser Zwischenfeststellung sollen im Rahmen des vorliegenden Beitrags unter Rückgriff auf den dritten und vierten Teil der Taeger’schen Habilitationsschrift einige Anmerkungen zur Produkt- und Produzentenhaftung gemacht werden. Nicht bearbeitet werden soll die Frage nach der Haftung für fehlerhafte Computerprogramme nach dem Datenschutzrecht. Dieser im fünften Teil seiner Monographie von Taeger bearbeitete Aspekt außervertraglicher Haftung basiert auf der Überlegung, ein Schaden könne auch darauf beruhen, dass ein Computerprogramm personenbezogene Daten fehlerhaft verarbeitet hat. Specht-Riemenschneider hat dies aber kürzlich bereits aufgegriffen und die Frage nach einer Herstellerhaftung für nicht-datenschutzkonform nutzbare Produkte ausführlich erörtert.3 Sie kommt mit überzeugender Begründung zu dem gut vertretbaren Ergebnis, dass zwar keine unmittelbare Verpflichtung des nach Art. 4 Nr. 7 DSGVO verantwortlichen Softwareherstellers besteht, die Vorgaben des Art. 25 DSGVO einzuhalten. Nach den Grundsätzen der deliktischen Produzentenhaftung möchte sie aber eine an Zumutbarkeitserwägungen zu messende Verpflichtung des Herstellers ableiten, nur solche Produkte in den Verkehr zu bringen, die datenschutzkonform nutzbar sind.
1. Produkthaftung nach dem ProdHG
Nach § 1 Abs. 1 ProdHG besteht ein Schadensersatzanspruch, wenn durch den Fehler eines Produkts ein Mensch getötet, sein Körper oder seine Gesundheit verletzt oder eine Sache beschädigt wird. Für die dramatischen Fälle der Tötung oder Verletzung von Menschen wie in dem oben angeführten Boeing-Drama ist dies unproblematisch. Im Falle der Sachbeschädigung muss aber eine andere Sache als das fehlerhafte Produkt beschädigt worden sein und diese Sache darüber hinaus ihrer Art nach gewöhnlich für den privaten Ge- oder Verbrauch bestimmt und vom Geschädigten hierfür auch hauptsächlich verwendet worden sein.4
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