Marie Louise Fischer
Roman
Saga Egmont
Mädchenwohnheim
Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof Forlag A/S
Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, ( www.marielouisefischer.de)
represented by AVA international GmbH, Germany ( www.ava-international.de)
Originally published 1975 by Lübbe Verlag, Germany
All rights reserved
ISBN: 9788711719404
1. Ebook-Auflage, 2017
Format: EPUB 3.0
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SAGA Egmont www.saga-books.comund Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk– a part of Egmont www.egmont.com
Der Bus rollte die Leopoldstraße hinunter. Noch war der Frühsommerhimmel über München hell, aber schon flammten in Schwabing die verlockenden Leuchtschriften über den Eingängen der Nachtlokale auf: der Bars, der Diskotheken, der Theater, Drugstores und Tanzetablissements.
In Gitte, die auf der hinteren Plattform des Busses stand und hinausblickte, erweckten sie eine prickelnde, schmerzhafte Sehnsucht. Sie wollte nicht einfach ausgehen, nicht mit irgendjemandem; das hätte sie jeden Abend haben können, aber das hätte ihr keinen Spaß gemacht, ohne den Mann, den sie liebte. Doch der lebte viele hunderte Kilometer weit entfernt. Das Herz zog sich ihr zusammen, wenn sie an sein liebes Gesicht dachte. Peter! - Lautlos formten ihre Lippen seinen Namen, und doch kam es ihr selber vor wie ein Schrei. »Na, was ist?« fragte der junge Mann neben ihr, Andreas Kramer, Lehrling im medizinisch-biologischen Institut wie sie selber. »Kommst du nun mit?«
»Nein!« entgegnete sie. »Wie oft soll ich es dir noch sagen, bis du es endlich kapierst!«
»Mensch, was bist du bloß für eine Flasche! Wenn man dich so ansieht, kann man sich gar nicht vorstellen, was für eine Flasche du bist!«
Sie nahm es ihm nicht übel, denn sie verstand seinen Ärger. »Mach dir nichts draus, Andy, du findest schon ’ne andere. Ich bin sowieso zu alt für dich.«
»Na hör mal. Ich bin achtzehn!«
»Eben. Ich auch.«
Der Bus hielt.
Gitte drängte zum Ausgang. »Tschau, Andy. Bis morgen.«
Sie sprang ab, überquerte die Fahrbahn und bog in die Ainmillerstraße, ein großes, schlankes Mädchen in einem beigen Ledermantel und hochhackigen, schmalen Stiefeln. Die rote Schirmmütze, die sie sich schief auf den Kopf gesetzt hatte, gab ihr etwas Keckes; sie wirkte sehr hübsch mit der reinen Haut, den grauen, von langen, schwarz getuschten Wimpern umgebenen Augen.
Während sie die Straße hinaufeilte, freute sie sich schon auf einen gemütlichen Abend mit ihrer Zimmerkameradin. In der rechten Hand trug sie eine Plastiktüte mit einer Flasche Diätwein - Diät wegen der schlanken Linie -, den sie sich und ihrer Freundin gönnen wollte.
Schon von weitem sah sie das hell erleuchtete Portal des Mädchenwohnheims, eines modernen Gebäudes, dessen Fassade mit rötlichen Kunststeinen verkleidet war.
Die Eingangstür war offen. Gitte stieß sie auf. Im Aufenthaltsraum sah sie Jungen und Mädchen vor dem Fernseher sitzen. Sie wandte sich nach links, wo hinter einem meist offenen Schiebefenster die jeweilige diensthabende Aufsicht saß. Heute war es Fräulein Zöllner, eine gelernte Jugendfürsorgerin.
Sie war jung, freundlich und allgemein beliebt.
»’n Abend, Gitte«, grüßte sie, »schweren Tag gehabt?«
»Lässt sich ertragen.«
»Dein Essen steht im Ofen.«
»Danke, Fräulein Zöllner. Habe ich Post?«
Fräulein Zöllner ließ den Blick über die Postfächer gleiten. »Leider nein«, sagte sie, »oder doch: ein Paket für dich!«
Gitte wurde zwischen zwei ganz und gar verschiedenen Gefühlen hin und her gerissen: Enttäuschung darüber, dass Peter nicht geschrieben hatte, und Freude über das Paket, das bestimmt von zu Hause kam. Sie ging um die Ecke herum und trat in die Wachstube, in der es einen Schreibtisch und verschiedene Stühle gab.
Das Paket stand in der Ecke seitlich unter dem Schiebefenster. Gitte hob es hoch. Es war schwer.
»Dann esse ich heute Abend lieber nichts«, erklärte sie lächelnd, »meine Mutter hat bestimmt was Gutes eingepackt, und doppelte Rationen kann ich mir nicht leisten.«
»Aber du bist doch so schlank, Gitte!«
»Weil ich aufpasse.« Sie wandte sich zur Tür.
»Moment mal, Gitte!« rief Fräulein Zöllner. »Ich weiß, du hast es jetzt eilig auszupacken, aber setz dich doch einen Moment.«
Gitte krauste die Stirn; sie war schon zwei Jahre im Wohnheim, gleich seit sie von dem heimatlichen Dorf in Norddeutschland nach München gekommen war, und sie wusste aus Erfahrung, dass solche Aussprachen selten etwas Gutes brachten. »Ja …?« sagte sie zögernd. »Ich wüsste nicht, dass ich was angestellt hätte.«
»Du doch nicht. Wie kommst du denn auf so was.« Fräulein Zöllner kramte in einem Stoß Papiere, die auf dem Schreibtisch lagen. »Es handelt sich um etwas ganz anderes … Fräulein Tyssen hat eine Neue auf euer Zimmer gelegt.«
»Was?« Gitte hätte vor Schreck fast das Paket fallen lassen und legte es rasch auf die Schreibtischkante.
»Das darf doch nicht wahr sein!«
»Du und Lola, ihr wohnt in einem Dreierzimmer, das weißt du doch. Ihr hattet Glück, dass ihr die letzten Monate allein geblieben seid. Aber das konnte doch nicht ewig dauem.«
»Ist denn nirgends anders was frei?«
»Doch. Aber Frau Tyssen meint, dass sie am besten zu euch passt.«
»Wer ist sie denn?«
»Sie heißt Angi, ist fünfzehn Jahre alt und Gymnasiastin.«
Gitte ließ sich auf einen der Stühle sinken. »Ausgerechnet! Uns bleibt aber auch nichts erspart!«
»Seid nett zu ihr, ja? Helft ihr, sich zurechtzufinden.« Gitte erhob sich langsam. »Wo ist sie denn her?«
»Aus München. Häusliche Schwierigkeiten. Das Übliche.«
Gitte nahm ihr Paket. »Da kann man wohl nichts machen.« Sie zog eine Grimasse. »Immer auf uns Kleine.«
Die Neue stand, nur mit Höschen und Strumpfhose bekleidet, vor ihrem Bett und wühlte in ihrem geöffneten Koffer.
»’n Abend, Angi!« grüßte Gitte so herzlich, wie es ihr möglich war. »Willkommen in …« Sie kam nicht dazu, den Satz zu Ende zu sprechen.
Die Neue fuhr herum, kreuzte die Arme über dem nackten Busen und rief: »Kannst du nicht anklopfen!« Sie war ziemlich mollig, hatte ein rundes Gesicht mit einem kräftigen Kinn, und das rötliche, in der Mitte gescheitelte Haar stand ihr weit vom Kopf und wirkte wie eine Löwenmähne.
»Warum sollte ich?« Gitte trug ihr Paket zu dem Tisch mit den drei Stühlen, der dicht am Fenster stand. »Ich wohne ja hier.«
»Du könntest trotzdem …«
»Hör mal, Angi, wenn ich dir einen guten Rat geben darf: fang nicht gleich an zu stänkern. Hier im Heim herrschen bestimmte Gesetze, geschriebene und ungeschriebene, und du tätest gut daran, dich anzupassen, anstatt gleich alles auf den Kopf stellen zu wollen. Im Übrigen brauchst du dich nicht zu genieren. Ich weiß sehr gut, wie ein nacktes Mädchen aussieht.« Sie wies auf das Waschbecken, über dem die Becher mit Lolas und ihrer Zahnbürste standen. »Wir waschen uns ja hier im Zimmer.«
»Gibt es denn kein Bad?«
»Es gibt Bäder. Aber nicht genug, dass wir sie alle zugleich jeden Morgen und jeden Abend benutzen könnten. Also wird’s eingeteilt.« Sie reichte Angi die Hand. »Ich heiße Gitte. Und ich hoffe sehr, dass du dich bei uns wohl fühlen wirst.«
Angi erwiderte Gittes Händedruck, hielt aber den linken Arm immer noch krampfhaft über dem Busen. »Besser als zu Hause wird es hier allemal sein.«
»Das kommt darauf an.« Gitte nahm ihre Mütze ab und schlüpfte aus ihrem Mantel, unter dem sie einen grauen Minirock und einen selbst gestrickten, rotweißen Pullover trug.
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