»Oh, Gitte!« schrie Angi. »Du bist ein Engel! Das werd’ ich dir nie im Leben vergessen!«
Vor dem »Yellow Submarine«, das von außen wie ein riesiger, bunt bemalter Zementblock wirkte, standen einige junge Männer, einzeln oder in Gruppen, zusammen. Dennoch fand Gitte den Mann, den sie suchte, sehr rasch.
Thomas wirkte nicht ganz so blendend, wie Angi ihn beschrieben hatte, war aber immer noch ansehnlich genug, um ein Mädchen in sich verliebt zu machen. Er war schlank, breitschultrig und sehr viel älter als Angi, Anfang oder sogar Mitte zwanzig. Er trug einen hellen Dufflecoat, hatte den Kragen aufgeschlagen und die Hände in die Taschen vergraben. Das dichte, dunkle Haar war lang und wuchs ihm in leicht gelockten Koteletten über die Wangen.
»Herr van Wiek«, sagte Gitte.
Er lächelte interessiert. »Sollten wir uns kennen?«
»Nein. Ich komme von Angi. Sie kann die Verabredung nicht einhalten. Sie ist jetzt im Mädchenwohnheim in der Ainmillerstraße, und dort kann sie nach einundzwanzig Uhr nicht mehr fort.«
Thomas van Wiek zog eine leicht übertriebene und deshalb komische Grimasse des Entsetzens. »Nie?«
»Wenigstens vorläufig nicht.«
»Na, dann richten Sie ihr mein tief empfundenes Beileid aus.«
»Sie können sie besuchen.«
»Wann?«
»Jeden Tag. Wir haben einen Aufenthaltsraum, wo wir unsere Freunde empfangen dürfen.«
»Haben Sie einen Freund?« fragte Thomas van Wiek. Ihr Gesicht verschloss sich. »Das steht hier nicht zur Debatte.« Sie wandte sich zum Gehen.
»Moment.« Er legte ihr die Hand auf die Schulter und hielt sie zurück. »Warum haben Sie es denn so eilig? Ich wollte Sie gerade bitten, mir Gesellschaft zu leisten.«
Bis zu diesem Augenblick war er ihr sympathisch gewesen, aber dass er so schnell bereit war, Angi zu vergessen und sich mit ihr zu trösten, gefiel ihr ganz und gar nicht. »Nein«, sagte sie kalt, »ich denke nicht daran. Wie könnte ich mich denn mit Ihnen amüsieren, während Angi sich die Augen ausweint?«
»Ach so. Sie sind eine kleine Sentimentale.«
Er grinste.
Sie riss sich von ihm los. »Und Sie ein gemeiner Egoist!«
»He, soll ich Sie nicht wenigstens nach Hause fahren?« rief er ihr nach.
Aber sie würdigte ihn keiner Antwort, sondern machte, dass sie davonkam.
Lola tanzte in der Amor-Bar. Mit Philip, genannt Fips, ihrem neuen Freund, Verkäufer im Supermarkt, einsneunzig groß, langes, blondes Haar und blaue Augen. Der Diskjockey legte einen Rock ’n’ Roll nach dem anderen auf. Die Stimmung war ganz groß, und Lola fühlte sich toll. Dennoch vergaß sie keine Sekunde, dass sie pünktlich im Heim sein musste.
»Guck doch nicht dauernd auf die Uhr«, schimpfte Fips, »das geht mir auf den Wecker.«
»Du, es ist Viertel vor elf. Ich muss sausen.«
»Quatsch.«
»Kein Quatsch.« Lola drängte sich durch die Tanzenden zur Garderobe; mit Erleichterung stellte sie fest, dass Fips ihr nachkam.
»Ist das denn so schlimm, wenn deine Leute sich aufregen?« Er half Lola in den Mantel.
»Ich lebe nicht bei meinen Leuten, sondern in einem Mädchenwohnheim, und wenn ich bis elf Uhr nicht da bin, stehe ich auf der Straße. Nicht nur diese Nacht, sondern sie feuern mich. Für immer.«
»Dann suchst du dir eben eine sturmfreie Bude.«
Sie holte tief Atem. »Fips, es ist besser, ich sag es dir gleich. Ich bin erst siebzehn, und ich stehe unter Fürsorge. Weil ich mal von zu Hause ausgerissen bin. Die haben mich da eingewiesen, weil ich nicht mehr zurückwollte. Aber wenn ich jetzt noch was anstelle, stecken sie mich womöglich in ein Erziehungsheim.«
»Ach, du große Scheiße!«
Sie versuchte, ihrer Stimme Festigkeit zu geben. »Wenn du unter diesen Umständen lieber nichts mit mir zu tun haben möchtest, brauchst du es mir nur zu sagen.«
Philip, genannt Fips, legte den Arm um Lolas Schulter. »Du spinnst wohl«, sagte er herzlich, »davon habe ich kein Wort gesagt.«
Lola riss sich los. »Aber du hast mich komisch angeguckt … gib’s doch zu!« Sie stieß die Tür zur Straße auf.
Fips folgte ihr ins Freie.
»Mensch, nimm doch Vernunft an«, redete er auf sie ein, »kann schon sein, dass ich ein bisschen schief aus der Wäsche geguckt habe …«
»Also doch!«
»Aber nicht wegen der Fürsorge. Warum bist du denn eigentlich von zu Hause weg?«
»Weil ich mich mit meinem Alten nicht verstanden habe, was denn sonst!« rief sie aufgebracht.
»Hätte ja auch ’nen anderen Grund haben können«, erklärte er nüchtern.
»Nun tu bloß nicht so, als würdest du dich unbändig für mein Schicksal interessieren!«
»Unbändig!« Fips lachte schallend.
»Das ist genau der richtige Ausdruck. Ich interessiere mich unbändig für dich, Kleine! Hast du das endlich kapiert?«
Sie blieb stehen und funkelte ihn aus ihren schwarzen Augen an. »Ich glaub’ dir kein Wort!«
Er nahm sie bei den Schultern, beugte sich zu ihr hinab und küsste sie fest und lange auf den Mund, bis ihre Lippen weich wurden und sich ihm öffneten.
»Na, und was sagst du jetzt?« fragte er, als er sie endlich freigab.
»Das war ein richtiger Dauerbrenner!«
»’ne Liebeserklärung war das! Oder glaubst du, ich küsse jedes Mädchen so?«
»Man kann nie wissen«, behauptete sie, aber das Strahlen ihrer Augen strafte ihre Worte Lügen.
Ganz leise drückte Lola fünfzehn Minuten später die Klinke nieder und öffnete langsam, um ein Quietschen zu verhindern, die Tür zu ihrem Zimmer. Aber sie hätte nicht so rücksichtsvoll zu sein brauchen; die beiden anderen Mädchen waren noch wach. Gitte lag im Bett und las im Schein der Nachttischlampe. »Du, das war aber knapp«, sagte sie mit einem Blick auf das Zifferblatt ihres Weckers. »Ich wusste ja, dass die Zöllner Pforte hatte. Die gibt schon ein paar Minuten zu, wenn sie weiß, dass noch eine draußen ist.«
»So felsenfest würde ich mich darauf aber nicht verlassen.« Gitte klappte ihr Buch zu und verschränkte die Hände hinter dem Kopf »Auch wenn du dich heute wie ein Glückspilz fühlst.«
Lola, die schon aus ihrer langen, schwarzen Hose stieg, hielt mitten in der Bewegung inne. »Woher weißt du?«
»Man sieht’s dir an«, erwiderte Gitte mit einem Lächeln.
»Du, dieser Fips ist wirklich ganz große Klasse.« Lola zog sich weiter aus. »Der würde sogar dir gefallen. Ehrlich, ich bin schwer verliebt … was heißt verliebt, es ist die ganz große Liebe, du brauchst gar nicht zu grinsen.« Lola lief splitternackt hin und her und räumte ihre Sachen fort. »Er hat nur einen einzigen Fehler: er wohnt im Sankt-Josef-Heim.«
»Na und?«
»Das fragst du noch?« Lola begann am Waschbecken ihr Gesicht mit Watte und Lotion zu bearbeiten. »Die dürfen da doch kein Mädchen mit raufnehmen, wie wir hier keine Jungen!«
»So weit seid ihr also schon?« fragte Gitte.
Gleichzeitig ließ sich Angi, die Neue, aus dem dritten Bett vernehmen: »Warum eigentlich nicht?«
Lola wandte sich zunächst an die Freundin: »Natürlich nicht. Wofür hältst du mich? Aber früher oder später wird es so weit sein, das liegt doch in der Natur der Dinge, und schließlich macht man sich Gedanken.«
Sie schlüpfte in ihr geblümtes Nachthemd und war mit einem Satz im Bett.
»Und was deine Frage betrifft, meine liebe Angi, so ist sie nicht einmal so blöd, wie sie klingt.
Höre und staune: Es hat Zeiten hier in unserem trauten Heim gegeben, wo die Jungens mit auf die Zimmer rauf durften.«
Angi richtete sich auf den Ellbogen auf. »Tatsache?«
»Mein Wort drauf. Allerdings bloß bis zehn Uhr. Aber das war ja auch noch besser, als in die hohle Hand gespuckt.«
Gitte knipste ihre Nachttischlampe aus. »Das war ganz zu Anfang. Frau Tyssen hat’s verboten, nachdem ein paarmal welche in den Betten erwischt worden sind.«
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