»Es ist immer das Gleiche«, fügte Lola philosophisch hinzu, »die Vernünftigen müssen unter der Blödheit der anderen leiden.«
Es wurde sacht an die Tür geklopft, und Fräulein Zöllner trat ein. »Alle Mann an Bord?« fragte sie freundlich. »Dann wünsche ich euch eine recht gute Nacht.«
»Gute Nacht, Fräulein Zöllner«, sagten Gitte und Lola gleichzeitig.
»Pass auf, was du träumst, Angi«, riet Fräulein Zöllner. »Es ist zwar ein Aberglaube, dass das, was man in der ersten Nacht träumt, in Erfüllung geht, aber manchmal kommt doch was ganz Lustiges dabei heraus.« Sie knipste das Deckenlicht aus und machte die Tür hinter sich zu.
Die drei Mädchen lagen im Dunkeln.
»Wo geht die jetzt hin?« fragte Angi.
»Halt die Klappe«, sagte Lola grob, »wir wollen endlich schlafen.«
»Nun sei doch nicht so«, wies Gitte sie zurecht, »schließlich bist du als Letzte gekommen.«
Lola rollte sich auf die Seite. »Wenn du noch mit der Neuen quatschen willst … von mir aus. Aber mich lasst gefälligst in Ruhe.« Sie war ein ganz klein bisschen eifersüchtig, weil Gitte und Angi sich anscheinend schon angefreundet hatten. Aber dann dachte sie an Fips, und es wurde ihr warm ums Herz. Alles andere war ganz unwichtig, löste sich in ein Nichts auf. Sie träumte von dem großen, blonden Jungen und dem Glück, das sie gemeinsam erleben würden. Die beiden anderen Mädchen unterhielten sich wispernd.
»Die Zöllner geht nach Hause«, flüsterte Gitte.
»Wohnt sie nicht hier?«
»Nur die Tyssen. Die hat eine eigene Wohnung. Im ersten Stock. Zum Garten raus. Sehr schön. Aber da kommen wir so gut wie nie rein.«
»Warum nicht?«
»Warum ja? Erstens haben wir da nichts zu suchen, zweitens wird sie nach ihrem Dienst die Nase voll von uns haben, und drittens lebt sie da mit ihrem Sohn.«
»Sie hat einen Sohn?«
»Mach dir bloß keine falschen Hoffnungen. Für den sind wir tabu.«
»Besten Dank. Kein Bedarf.« Eine Weile war Angi still. Dann fragte sie: »Und wer ist jetzt an der Pforte?«
»Niemand.«
Angi richtete sich jäh auf. »Im Ernst?«
»Glaubst du etwa, ich verkohl’ dich?«
»Nein, natürlich nicht«, beeilte Angi sich zu versichern, »bloß … ich bin so überrascht. Und ist das jede Nacht so? Dass niemand an der Pforte ist?«
»Ja. Nach elf Uhr kann man nur noch mit dem Schlüssel rein. Willst du sonst noch was wissen?«
Aber Angi hatte genug gehört.
»Nein«, sagte sie, »danke.«
»Dann ist es ja gut. Schlaf also.«
»Du auch«, sagte Angi.
Aber sie war viel zu aufgeregt. Ihr war eine Idee gekommen, wie sie auch ohne Hausschlüssel und ohne Erlaubnis nachts ausgehen konnte. Während die tiefen, gleichmäßigen Atemzüge der Zimmergenossinnen verrieten, dass sie schon eingeschlafen waren - Lola schnarchte sogar leise -, arbeitete Angi die Einzelheiten eines abenteuerlichen Plans aus.
Gitte, Andreas und drei andere junge Leute arbeiteten als Lehrlinge im biologisch-chemischen Institut Professor Hamburgers. Ihre Aufgabe - oder vielmehr die der Angestellten, die sie vorläufig nur darin unterstützen durften - bestand darin, Abstriche, Blut- und Urinproben, die von Ärzten eingereicht wurden, zu untersuchen. Es musste festgestellt werden, welche Bakterien sie enthielten und ferner, auf welches Medikament diese Bakterien ansprachen.
Das war eine Arbeit, zu der man viel Geduld und auch Intelligenz brauchte, weil sehr viel organische Chemie gelernt werden musste. Gitte war nach dem Besuch der Volksschule zuerst in die Fabrik gegangen. Dort hatte es ihr nicht gefallen, und sie hatte in Abendkursen die mittlere Reife nachgemacht und war dann als Lehrling bei Professor Hamburger eingetreten.
Man konnte diesen Beruf aber auch, wie Andreas es getan hatte, mit Volksschulabschluss beginnen. Er war jetzt im dritten, sie im zweiten Lehrjahr.
Gitte war gern im Institut. Trotzdem wurde sie, als es auf den Spätnachmittag zuging, rechtschaffen müde: Die Bilder unter dem Mikroskop verschwammen ihr vor den Augen, und sie nahm sich vor, heute Abend nicht mehr so lange zu lesen.
Sie atmete auf, als Feierabend war. »Gott sei Dank! Das wäre wieder mal geschafft!«
»Du hast’s gerade nötig zu jammern!«
Andreas hatte schon begonnen, seinen Platz aufzuräumen.
»Was soll ich dann erst sagen?«
Gitte lachte. »Warum musst du auch jeden Abend bummeln gehen?«
Fräulein Schnell, eine der Büroangestellten, kam in das Labor, einen verschlossenen Umschlag in der Hand. »Gitte … Andreas«, sagte sie, »wer von Ihnen ist so nett, dieses Gutachten auf dem Heimweg bei Doktor Reinecker abzugeben? Er hat es wieder mal sehr dringend.«
»Das ist eher was für Gitte«, sagte Andreas rasch.
Gitte nahm den Umschlag entgegen. »Sieht dir wieder mal ähnlich, dich zu drücken.«
»Von Drücken kann gar keine Rede sein! Ich möchte bloß den guten Doktor nicht enttäuschen.«
»Jetzt spinnst du aber!«
Die jungen Leute standen auf, gingen in den Umkleideraum und zogen ihre weißen Kittel aus.
»Nicht die Bohne«, behauptete Andreas. »Der hat mich das letzte Mal ganz schön ausgeholt. Ehrlich.«
»Über mich etwa?« Gitte merkte, dass sie rot wurde, und ärgerte sich fürchterlich.
Andreas grinste. »Nur keine Bange. Ich hab’ ihm nichts verraten.«
»Quatschkopf.«
»Fest steht, dass der ganz schön scharf auf dich ist.«
Dr. Reineckes Praxis lag in der Amalienstraße. Ihm das Gutachten zu bringen, bedeutete für Gitte einen Umweg von einer Viertelstunde. Das machte ihr nichts aus. Aber das Gerede von Andreas hatte sie irritiert. Bisher war sie gar nicht auf die Idee gekommen, den Doktor als Mann zu betrachten. Er war schlank, trug eine Brille, hatte ein ruhiges, freundliches Wesen, war ein gewissenhafter Arzt und unverheiratet. Mehr wusste sie nicht von ihm. Zwar war er ihr nicht unsympathisch, aber er gehörte doch zu einer ganz anderen Kategorie von Menschen und war außerdem viel zu alt für sie, Ende zwanzig, vielleicht sogar schon dreißig, ganz davon abgesehen, dass sie nur ihren Peter liebte. Gitte konnte sich auch gar nicht vorstellen, dass Dr. Reinecke sich tatsächlich für sie interessierte. Wahrscheinlich hatte Andreas sich nur was zurechtgesponnen.
Dennoch war es ihr plötzlich unbehaglich, dem Arzt unter die Augen zu treten. Am liebsten hätte sie den Umschlag einfach in seinen Türbriefkasten geworfen und wäre davongelaufen. Aber ihr Pflichtgefühl siegte. Sie drückte auf die Klingel und hoffte, dass er auf einem Patientenbesuch wäre.
Aber wenige Augenblicke später öffnete er selber die Tür. »Hallo, Gitte! Kommen Sie doch rein!«
Sie folgte seiner Aufforderung zögernd. »Guten Tag, Herr Doktor.« Sie hielt ihm das Gutachten hin.
»Sie haben es wohl sehr eilig?«
»Immer«, behauptete sie.
Er riss den Umschlag auf, nahm das Schreiben heraus und überflog es. »Tut mir leid, dass ich Sie bemühen musste, aber es handelt sich um einen kleinen Jungen, wissen Sie …«
»Na, so schlimm ist der Umweg für mich ja nun auch wieder nicht.«
»Aber Sie haben heute Abend was vor?« fragte er.
Er sah sie dabei nicht an, und das machte ihr das Lügen leichter.
»Ja.«
Jetzt ließ er das Blatt sinken, und der Blick seiner Augen hinter den blitzenden Brillengläsern wurde eindringlich. »Jeden Abend?«
»So ziemlich.«
»Kann ich mir vorstellen. Ein schönes Mädchen wie Sie … und allein in München!«
Sie schwieg und bemühte sich, vielsagend zu lächeln. Warum ihr das Herz mit einem Mal so weh tat, wusste sie selber nicht. Wahrscheinlich lag es einfach daran, dass sie es nicht gewohnt war zu lügen, und weil es ihr schrecklich war, dass sich der gute Doktor nun ein ganz falsches Bild von ihr machen musste.
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