»Na, dann will ich Sie nicht länger von Ihrem Vergnügen abhalten«, sagte er.
Gitte machte, dass sie davonkam.
Erst als sie ein Stück gelaufen war, wurde ihr besser. Sie hatte so und nicht anders handeln müssen. Das war sie ihrem Peter schuldig. Sie hätte ja nicht gut sagen können, dass sie sich nie verabredete, weil sie ihrem fernen Freund treu bleiben wollte. Und außerdem war er selber schuld, dass sie ihn belogen hatte. Warum musste er auch so blöde Fragen stellen. Sie hatte es für Peter getan, und darum war es richtig.
Angi hatte, als sie von der Schule heimgekommen war, das große Haus für sich allein gehabt, denn es gab nur wenige Gymnasiastinnen im Heim und einige Studentinnen, aber die meisten Bewohnerinnen waren Lehrlinge oder junge Angestellte.
Sie hatte zu Mittag gegessen, ihre Aufgaben erledigt und sich dann schöngemacht. Für das weiße Faltenröckchen, das gerade noch ihren Po bedeckte, war sie eigentlich zu mollig, aber sie war jung genug, dennoch reizend darin auszusehen. Mit sehr viel Mühe hatte sie ihre rotblonden Locken gebändigt und mit einem weißen Band geschmückt.
Jetzt trieb sie sich, seit fünf Uhr, unentwegt vor der Haustür herum. Die Mädchen kamen, müde oder unternehmungslustig, eine nach der anderen heim, und schon fanden sich auch die ersten Besucher ein.
»He, Angi, was ist los mit dir?« rief Lola. »Wartest du auf jemand Bestimmtes?«
»Du hast’s erraten.«
»Du kannst aber trotzdem ruhig mit reinkommen. Wenn man Besuch kriegt, wird man benachrichtigt.« Aber das wollte Angi nicht riskieren. Sie hatte eine Höllenangst, Tom van Wiek zu verpassen, denn tatsächlich hatte es seinetwegen bei ihr zu Hause dauernd Krach gegeben, der schließlich dazu geführt hatte, dass sie ins Heim kam. Er war ein stellungsloser Schauspieler, der von irgendwelchen »Geschäften« lebte. Mal hatte er viel Geld und mal keins. Angi war das egal, ihren Eltern aber nicht.
Sie hätte sich nicht gewundert, wenn die Eltern Frau Tyssen eingeschärft hätten, dass sie mit jedem anderen Jungen, nur nicht mit Thomas van Wiek Zusammenkommen dürfte.
Endlich tauchte er von der Leopoldstraße her auf, schlank und breitschultrig und elegant. Sie jagte ihm entgegen, obwohl sie wusste, dass es nicht klug war, ihm so deutlich zu zeigen, wie viel ihr an ihm lag.
Sein Lächeln wurde denn auch gleich ein bisschen überheblich. »Na, na, warum so aufgeregt?«
Sie flog ihm an die Brust. »Ich hatte solche Angst, du könntest nicht kommen!«
»Kleine Spinnerin du.« Er klopfte ihr auf den Rücken.
»Du hast so viel Schwierigkeiten meinetwegen.«
»Na, wenn schon. Aber genug jetzt. Bloß keine Szenen auf offener Straße.«
Sie löste sich von ihm und sah ihn erwartungsvoll an.
»Wohin gehen wir?«
»Ins Heim, denke ich. Soviel ich weiß, habt ihr dort einen Aufenthaltsraum …«
»Nein, nein … oh, bitte nicht!« rief Angi spontan.
Thomas van Wiek blickte sie mit hochgezogenen Brauen an. »He, was ist los mit dir?«
»Ich möchte nicht, dass du ins Heim kommst.« Sie stampfte mit dem Fuß auf. »Kannst du das denn nicht verstehen?«
»Wie sollte ich! Wenn du einen wirklichen Grund hast, warum ich nicht reinkommen soll, musst du schon deutlicher werden.«
»Frau Tyssen hat heute Dienst …«
»Wer ist das?«
»Die Leiterin! Und sie ist besonders genau, sagen alle. Meine Eltern haben ihr bestimmt beigebracht, dass ich nicht mit dir verkehren darf.«
»Hat sie so was durchblicken lassen?«
»Bis jetzt noch nicht.«
»Einen Grund mehr, dass ich dich begleite. Dann wissen wir wenigstens, woran wir sind.« Er nahm ihren Arm und zog sie mit sich auf das Portal des Wohnheims zu. »Sei doch kein Angsthase, Angi. Was kann deine gestrenge Frau Tyssen uns schon wollen?«
»Sie kann dich rauswerfen!« Angi war den Tränen nahe.
»Na, und wenn schon! Dann sind wir doch auch nicht schlechter dran als jetzt. Komm, nimm dich zusammen.«
Sie sträubte sich immer noch. »Aber warum, Tom? Warum muss das sein? Und ausgerechnet heute?« »Erstens bin ich wieder mal blank und habe keine Lust, mit dir durch den Englischen Garten zu trotten … und zweitens möchte ich mir den Stall mal ansehen.«
Angi merkte, dass die hinein- und herausgehenden jungen Leute sie schon neugierig anstarrten und ergab sich in ihr Schicksal. »Auf deine Verantwortung«, sagte sie.
Er grinste. »Aber immer.«
Sie hielt ihn noch einmal zurück, als er schon die Tür aufgestoßen hatte. »Und wo erreiche ich dich, wenn’s schief geht?«
»Hm.« Er strich sich mit zwei Fingern rechts und links über die dunklen, dichten Koteletten. »Momentan habe ich keine feste Adresse. Schlafe so herum, weißt du. Aber frag doch mal von Zeit zu Zeit im ›Café Venezia‹. Da hinterlasse ich dir dann eine Nachricht.«
»Oh, Tom!« Jetzt hätte sie wirklich beinahe losgeheult, überwältigt von den Schwierigkeiten, die sich ihrer Liebe entgegenstellten.
Er gab ihr einen Stoß in den Rücken. »Kopf hoch und ran an den Feind!« Selbstbewusst und lässig, ganz Herr der Situation, schritt er durch den Windfang und betrat die Eingangshalle.
Angi folgte ihm, vorbei an dem offenen Fenster der Wachstube. Sie glaubte schon, die Gefahr überwunden zu haben, als Frau Tyssens Kopf wie ein Teufelchen aus dem Kasten hervorsprang.
»Darf ich bitten!« rief sie.
Angi drehte sich um, während Thomas gelassen weiterschritt.
»Das gilt auch für Sie, junger Mann!« rief Frau Tyssen. Thomas konnte sich nicht länger taub stellen; wohl oder übel musste er umkehren.
Frau Tyssen musterte ihn von Kopf bis Fuß aus ihren hellen, scharfen Augen und bildete sich ein Urteil. »Wir kennen uns noch nicht.«
Thomas verlor nichts von seiner Sicherheit. Mit einer schwungvollen Verbeugung stellte er sich vor, während Angi die Leiterin angstvoll anblickte.
»Thomas van Wiek also«, wiederholte Frau Tyssen, »darf ich Thomas zu Ihnen sagen? Wir pflegen die Freunde unserer Mädchen mit den Vornamen anzureden.«
»Oh, bitte, es wird mir eine Ehre sein.«
»Obwohl Sie eigentlich schon zu alt sind für diesen Kreis.«
»Ich Bin Vierundzwnzing«, behauptete Thomas, der tatsächlich schon zwei Jahre älter war, aber das gab er nicht gerne zu.
Frau Tyssen durchschaute ihn. Sie hatte schon vorher über ihn Bescheid gewusst, denn Angis Eltern hatten, wie das junge Mädchen ganz richtig vermutet hatte, von ihr verlangt, den Verkehr zwischen ihnen zu unterbinden. Doch Frau Tyssen hielt nicht viel von Verboten in Liebesangelegenheiten. Sie wusste aus Erfahrung, dass man mit ihnen fast immer das Gegenteil bewirkte, nämlich, dass die jungen Leute sich aus Trotz und um sich durchzusetzen nur noch enger aneinanderklammerten. So hatte sie es abgelehnt, mehr als die übliche Aufsichtspflicht zu übernehmen, und Angis Eltern hatten sich damit zufrieden geben müssen.
Jetzt sagte sie nur noch: »Sie wissen, Thomas, dass Angi um neun Uhr im Bett sein muss.«
»Es hat sich rumgesprochen.«
»Dann wünsche ich Ihnen beiden noch einen netten Abend.« Und damit waren sie entlassen.
Der Aufenthaltsraum war ein rechteckiger Saal, an dessen Längsseite hohe französische Fenster auf einen Garten hinausgingen, was ihm eine luftige, heitere Note gab. Jetzt waren die Abende noch zu kühl, um sie draußen zu verbringen; deshalb waren die Fenster geschlossen. Aber die Vorhänge waren nicht zugezogen, und das helle Frühlingsgrün von Bäumen und Büschen schimmerte im Schein des elektrischen Lichtes. Auf der gegenüberliegenden Seite war der Schalter für die Essensausgabe und der Zugang zur Küche. Im Hintergrund des Raumes stand auf einem Podest ein Farbfernseher, der aber jetzt nicht angestellt war. Aus einer Stereoanlage flutete Unterhaltungsmusik.
Da die Mädchen, die keinen Besuch hatten, es meistens vorzogen, sich auf ihren Zimmern aufzuhalten, andere auch ausgegangen waren, war nur ein Drittel der kleinen Tische besetzt. Mädchen und Jungen saßen zu Paaren oder in Gruppen. Nur wenige spielten Karten, die meisten plauderten, einige rauchten, und alle hatten etwas zu trinken vor sich stehen.
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