Der Alte setzte die Tasse auf den Tisch und stand auf.
Unten in der Halle gab es eine kleine Verzögerung. Die Türen zu den Wohnzimmern standen offen und waren mit Blumen und anderen Geschenken angefüllt.
„Wir hätten doch wenigstens eine Blume mitnehmen sollen“, meinte Elisabeth, die im Gegensatz zu den anderen, die völlig teilnahmslos schienen, unsicher und nervös war.
„Es sind ja genug da“, erwiderte Resi, lief durch die Zimmer und kam, während die andern sich schnell in Ordnung brachten, mit einem großen Strauß Nelken zurück.
„Da“, sagte sie und legte die Blumen Elisabeth in den Arm. „Mach dich bei deinem Schwiegervater beliebt.“
Im selben Augenblick erschien oben auf der Treppe der alte Baron. Die hohe, schlanke, trotz des Alters kaum gebückte Gestalt mit dem feinen, schmalen, bartlosen Gesicht ließ trotz des leichten jüdischen Einschlags auf einen Aristokraten schließen. Er trug einen eleganten, wenn im Schnitt auch nicht ganz modernen grauen Gehrock, dazu einen dunklen Plastron, eine Blume im Knopfloch und eine etwas zu hoch geschlossene Weste, über der vom Hals herab eine goldene Kette hing.
Elisabeths erster Eindruck war: das könnte ebensogut ein alter Königsmarck oder — sie dachte an ihren Großvater mütterlicherseits — ein Graf v. Seydlitz sein.
„Guten Tag, meine lieben Kinder!“ rief der Alte und breitete die Arme aus.
„Guten Tag, Papa!“ riefen sie nicht gerade leidenschaftlich zurück. — Nur Elisabeth, die den Alten verwundert ansah, schwieg. Sie sah plötzlich all die alttestamentarischen Gestalten vor sich, die sie aus böhmischen Bädern und wohl auch von Abbildungen her kannte — und an die sie immer hatte denken müssen, wenn von dem Vater ihres Mannes die Rede war. Das war auch der Grund gewesen, warum sie sich bis jetzt gesträubt hatte, Mutter zu werden. — Und nun stand plötzlich ein Gentleman vor ihr, der in jedem Londoner Salon eine gute Figur gemacht hätte.
Mechanisch ging sie mit den anderen die Treppe hinauf. Adele legte als erste den Arm auf die Schultern des Alten, küßte ihn auf die Wangen und sagte:
„Ich gratuliere, Papa!“
Genau dasselbe tat Resi. Bei beiden wirkte es herzlos und konventionell. Auch der Alte schien unberührt, lächelte und dankte. Als jetzt Elisabeth mit den Nelken im Arm vor ihm stand, sah er sie gütig an, dachte, was für ein schönes Bild — und sagte:
„Ich freue mich — Elisabeth“ — man merkte, er hatte diesen Namen noch nie ausgesprochen — „daß Sie gekommen sind!“
„Ich mich auch!“ rief sie — und es kam ihr aus dem Herzen. Sie ließ die Blumen fallen, ergriff die Hand des Alten und küßte sie.
„Nicht doch, mein Kind!“ wehrte er gütig ab und schloß Elisabeth in die Arme. Denn er fühlte, daß sie allein mit dem Herzen bei ihm war.
„Die kann sich verstellen“, — sagte Adele leise — und Resi erwiderte:
„Fällt mir nicht ein.“
Dann umarmten und küßten die drei Söhne ihren Vater — auch sie sagten wenig oder nichts — und zehn Minuten später saßen sie alle sechs wieder in ihrem Auto und fuhren in das Hotel. —
Am Nachmittag um 5 Uhr saß der alte Baron im Frack mit seinen Söhnen und deren Frauen, die lange Abendtoiletten trugen, an dem festlich gedeckten, runden Tisch. Rings um den schweren Silberkandelaber, auf dem zwölf Kerzen brannten, stand kostbares Glas und Porzellan; Maiglöckchen, die Lieblingsblumen der vor Jahren verstorbenen Baronin, schmückten die Tafel.
Es wurde Kaviar und 1911er Riesling gereicht, aber die Unterhaltung kam nicht in Gang. Schließlich sagte der Alte:
„Also, Kinder, was haben wir uns zu erzählen?“
Er gab sich nicht der Hoffnung hin, den seit der Mutter Tod verlorengegangenen Kontakt mit seinen Söhnen wiederherzustellen, von deren Leben während der letzten zehn Jahre er nicht viel mehr wußte, als daß sie zwischen Berlin, Paris und London, zwischen Trouville, Biarritz und San Sebastian, zwischen Sils Maria und St. Moritz, Kairo und Assuan hin und her reisten.
Aber was an all den Orten sie allein erregte und interessierte, war immer das gleiche: die Gesellschaft — die Toiletten — die Vermögensverhältnisse — das Spiel — die Autos — und allenfalls der Sport, den andere ausübten. — Ort und Land, Völker und Sitten, ja selbst der Erdteil, spielten dabei nur eine Toilettenrolle — mit anderen Worten: es wechselte nur die Kulisse, vor der sich das immer gleichbleibende, geistlos-träge Spiel des gesellschaftlichen Verkehrs der oberen Tausend abspielte.
Der alte Baron bemühte sich, das Niveau der Unterhaltung zu heben. Er wies, als von Paris die Rede war, auf ein Gemälde an der Wand, ein Porträt Karls I. von England, nach dem berühmten Bildnis van Dycks, von der Hand eines Schülers des Meisters.
„Kostenpunkt?“ fragte Richard.
„Der Wert des Originals im Louvre ist gar nicht abzuschätzen“, erwiderte der Alte.
„Wenn ich mir das Original nicht leisten kann“, — meinte Adele — „ich würde mir keine Kopie an die Wand hängen.“
„Und weshalb nicht?“ fragte der Alte lächelnd. „Wenn die Kopie, wie in diesem Fall, genau so schön ist wie das Original?“
„Weil es aussieht, als wenn man wollte und kann nicht“, erwiderte Adolf — woraufhin Adele meinte:
„Dies Gefühl ist dir ja geläufig.“
„Ich finde“, erklärte Richard, „ein Porträt, mit dem man nicht verwandt ist, gehört ins Museum, aber nicht in ein Privathaus.“
Als der alte Baron erwiderte:
„Der Wert dieses Bildes beträgt hundertzwanzigtausend Mark“, flogen alle Köpfe dem Gemälde zu, das sie plötzlich:
„Blendend“
„Ganz wunderbar“
„Vor allem im Licht“
„Nein, gerade in den Farben“
„Durchaus naturalistisch“
„Ein Meisterstück der alten Schule“
„Unerhört dekorativ“
„In jeder Weise vollendet“ — fanden.
Der alte Baron aber spülte mit einem Glase 1881er Malaga, den man zur Schildkrötensuppe reichte, den bitteren Geschmack herunter und faßte den Entschluß, das Gemälde dem Staedelschen Museum zu vermachen.
Nur einmal ließ sich der Alte dazu verleiten, die Unterhaltung seiner Kinder zu unterbrechen. Sie stritten sich gerade darüber, ob die guten Klubs in England noch immer so exklusiv wie früher seien — und Adolf sagte:
„Wenn man in London nicht in einem großen Klub ist, ist man doch aufgeschmissen.“
„Man weiß ja nicht einmal, was man tagsüber in London anfangen soll“, — meinte Resi — „die zwei Stunden im Hydepark füllen den Tag nicht aus — und shopping macht bei der konservativen Einstellung der Modistinnen auch kein Vergnügen. In Paris kann man sich das Verrückteste ausdenken, und jede Modistin wird begeistert darauf eingehen.“
„Es gibt in London ein Britisches Museum“, sagte der Alte.
„Hm, davon habe ich gehört“, erwiderte Ernst.
„Es ist von zehn bis sechs geöffnet — und man kann sich da sehr gut die Zeit vertreiben.“
„Archäologen, aber keine modernen Menschen“, meinte Adolf.
„Ich mache mir auch nichts aus alten Gemälden“, stimmte Ernst seinem Bruder bei — und Richard sagte:
„Ich schon — aber nicht in solchen Massen.“
„Kinder! Kinder! Was redet ihr da zusammen!“ sagte der Alte — und Elisabeth meinte:
„Ich sage Ernst auch immer, er soll in Gesellschaften vorsichtig mit seinen Reden sein — man kann nie wissen, ob nicht doch mal einer dabei ist, der etwas versteht.“
„Das ist sehr klug von Ihnen, mein Kind. Und wenn Sie wieder mal mit meinem Sohne in London sind, dann gehen Sie mit ihm wenigstens zu der Sladeschen Sammlung im Britischen Museum und zeigen Sie ihm die Glassammlung ...“
„Richtig!“ sagte Resi und nahm noch einmal von dem Salmi von Huhn, zu dem es einen 1908er Château Latour gab — „über deine Glassammlung wollten wir mit dir sprechen.“
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