„Ich war es nie!“ erwiderte Carl. „Aber ich glaube, ich könnte es trotz meiner Jahre noch mal werden.“
„Also,“ wandte sich Werner an den Kerl, „wollen Sie das in die Hand nehmen?“
Das Mädchen am Tisch gab ihm einen Wink und sagte:
„Mach doch, Otto!“
Und Otto hielt Werner unter dem Tisch die flache Hand hin.
Werner griff in die Tasche, holte ein Fünfmarkstück heraus, sagte: „Da!“ und legte es Otto in die Hand. Der besah es, verzog den Mund und schüttelte den Kopf. Das Mädchen hob sich ein wenig in die Höhe, beugte sich über den Tisch und sah auf Ottos Hand, in der das Geldstück lag.
Sie prutschte los, machte zu Werner hin ein Zeichen, dass er wohl nicht ganz richtig im Kopfe sei und sagte:
„Hab’n Sie ’n Schimmer von die schwarze Agnes.“
Werner, der Carls Interesse sah, legte ein zweites Fünfmarkstück drauf. Wieder besah es Otto und schüttelte den Kopf. Wieder hob sich das Mädchen in die Höhe und beugte sich über den Tisch – diesmal mit dem ganzen Oberkörper – und schlug wütend von unten gegen die Hand Ottos, so dass die nach oben schnellte und beide Geldstücke in einem mächtigen Bogen durch den Saal flogen.
Irgendwo kreischte ein Weib, ein paar Menschen fielen übereinander her, jemand schwang einen Stuhl, Gläser klirrten, Stimmen dröhnten, Schläge fielen dumpf und kurz, irgendwer schlug zu Boden – dann brach der Lärm plötzlich ab.
„Sau!“ sagte Otto und schlug Ida die Faust ins Gesicht. Die verzog keine Miene. Keiner tat auch nur einen Blick nach der Stelle, von der der Lärm kam.
Aber Carl war aufgesprungen; kerzengerade stand er da, die Lippen zusammengepresst, starr den Blick nach dem Tisch gerichtet, von dem der Lärm kam, keine Spur von Scheu war mehr an ihm. Sein Ausdruck war straff, scharf, bestimmt. Plötzlich huschte ein Schatten über seine Stirn. Es war der Augenblick, in dem die Gläser klirrten. Carl schaffte sich rücksichtslos Bahn, stiess rechts und links alles beiseite, stand an dem Tisch, beugte sich über einen Stuhl, riss ihn mitsamt einem Weib, das sich an ihn klammerte und schrie, in die Höhe, hielt ihn fest, als ein Schlag dumpf seinen Kopf traf, und trug ihn, selbst erstaunt über seine Kraft, hinaus, über den dunklen Flur, auf die Strasse.
Werner sah es mit an und wusste keine Erklärung. Er warf ein Zehnmarkstück auf den Tisch und folgte Carl.
Der stand bei strömendem Regen ohne Hut und Mantel mitten in der Nacht auf der Strasse und hielt in seinen Armen ein junges Weib, das er mit Leidenschaft ohnegleichen an sich drückte.
*
Keiner sprach ein Wort.
Werner winkte das Auto heran, öffnete den Schlag und Carl barg seine Beute mit grosser Sorgfalt in den Wagen.
Werner nannte dem Chauffeur seine Wohnung.
„Wo bringst du mich hin?“ fragte müde eine weiche Stimme, die Werner zu kennen glaubte.
Es waren die ersten Worte, die einer von ihnen sprach.
Carl beugte sich über sie, schob das Tuch zurück, das sie sich hastig über Gesicht und Kopf geschlagen hatte, und sagte sanft:
„Zu mir, mein Vögelchen!“
Jetzt sah Werner zwei grosse schwarze Augen und erkannte sie wieder. Eine weisse Hand strich die Haare aus der Stirn. Ein feines, schmales Gesicht kam zum Vorschein.
Die schwarze Agnes war es, die neben Carl sass.
„Wer bist du?“ fragte sie, und unter ihrem Tuch kam das verstaubte Soubrettenkleid zum Vorschein.
„Ein Dichter,“ erwiderte Carl.
Sie sah ihn gross an, lächelte, fuhr ihm mit der Hand durchs Haar und sagte:
„Komisch! – Wo hast du deinen Hut?“
„Ich weiss nicht – is dir nicht kalt?“
Sie schüttelte den Kopf, nahm seine Hand und führte sie an ihr Gesicht.
„Da! Fühle, wie ich warm bin – so glühe ich am ganzen Körper.“
„Hat man dich sehr geschlagen?“ fragte Carl.
„Ja!“
„Weshalb?“
Agnes lachte verschmitzt und wies auf ihre Hand, die sie fest geschlossen hielt.
„Was hast du da?“
„Aber nicht fortnehmen,“ sagte sie und spreizte die Finger. Es war das Fünfmarkstück, das das Mädchen am Tisch dem Kerl neben Werner aus der Hand geschlagen hatte.
„Ich sah, wie du von der Bühne aus an den Tisch stürztest – du wirbeltest förmlich.“
„Ja, ich bin flink.“
„Willst du, dass ich dir zu dem Gelde was hinzutue?“
Agnes fiel Carl um den Hals und küsste ihn ins Gesicht.
„Bitte! Bitte!“
„Später!“
„Nein, jetzt!“ Sie liess ihn wieder los. „Du hast es versprochen! Jetzt gleich! Oder ...“ Und sie machte sich an der Tür des Wagens zu schaffen.
Carl griff ängstlich nach ihr und zog sie zurück.
„So komm!“
Er griff in die Tasche und holte eine Handvoll Silber heraus.
Agnes stand vor ihm. Werner kümmerte sie gar nicht.
„Gib! Gib!“ rief sie und leerte hastig seine Hände. Dann schlang sie die Arme wieder um seinen Hals und sagte:
„Ich habe dich lieb! – Sag, du bist wohl sehr reich?“
„Wozu brauchst du das Geld?“ fragte Carl.
„Für ein neues Kleid – um nicht so herumzulaufen!“ und sie wies auf das abgenutzte Kostüm. „Aber die Kerls sind ja so schäbig – und dann ...“ sie unterbrach plötzlich und sagte: „Na! – bex!“
„Ich will dir ein neues Kostüm kaufen – das heisst, dahin, in diese Gesellschaft solltest du nicht mehr ...“
Was er weiter sagte, ging in Agnes’ Jubel unter.
„Wirklich!“ rief sie, „das willst du tun?“
Und wie sie jetzt in diesem engen Raum ihrer Freude Ausdruck gab, wie sie die Arme hob, die Hände bewegte, wie unzählige Nuancen ihr Gesicht belebten, wie ihr ganzer Körper nur noch einer Verkündung höchsten Glücksgefühls glich, das mit anzusehen war ein Genuss sondergleichen.
„Sieh nach der Uhr!“ sagte sie endlich.
„Es ist eins vorbei.“
„Also noch sieben Stunden. Um acht werden die Geschäfte geöffnet. Kennst du Baruch am Alexanderplatz? Da gehen wir hin. Du, aber der ist teuer. Dafür hat er aber die schönsten Kostüme! Ja, und lumpen wirst du dich doch nicht lassen. Otto sagt, da kaufen sogar die richtigen Schauspielerinnen aus den grossen Theatern.“
Wieder verwischte der ästhetische Anblick das Hässliche ihrer Rede so vollkommen, dass man nicht einmal das Gefühl hatte, wenn sie doch schweigen wollte.
„Was sagst du dazu?“ fragte Carl mit einem Blick auf Agnes seinen jungen Freund.
„Ich bin, wie du, voller Bewunderung,“ erwiderte Werner, „trotzdem staune ich über dich.“
„Weil du meine jahrelange Sehnsucht nicht kanntest.“
„Wonach hast du dich gesehnt?“ fragte Werner.
„Danach!“ sagte Carl und riss Agnes an sich.
Wie ein Jüngling, dachte Werner und schüttelte den Kopf, als er Carls Rausch und Begeisterung sah.
Als das Auto hielt, fragte Agnes:
„Wo sind wir hier?“
Werner sagte:
„Bei mir.“
„Wo ist das?“
„Im Tiergarten.“
Agnes sah zum Fenster.
„Aber da stehen ja Häuser,“ sie beugte sich nach vorn. „Oh!“ rief sie voller Bewunderung, „das ist ja ein Palast! Wohnst du hier?“
„Ja!“
„Bist du auch Dichter?“
Werner nickte.
„Verdient man als Dichter denn so viel Geld?“ fragte sie, als sie jetzt in ihr Tuch gehüllt, das Carl besorgt am Halse festhielt, vor dem Hause stand.
„Das Haus gehört meinem Vater.“
Werner schloss die Haustür auf.
„Ich gehe voraus!“ sagte er.
Carl und Agnes blieben stehen.
Plötzlich lag die weite Diele hellerleuchtet vor ihnen.
Agnes hielt sich die Hände vor die Augen, zitterte in Carls Armen und rief ängstlich:
„Was ist das?“
„Blendet’s dich?“ fragte Carl.
„Nein!“ rief Agnes, deren Augen sich an die Helle gewöhnten, und staunte den Raum an. „Gehört das alles dir? – Oder was bist du hier?“
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