Links versicherte Estella von Pforten, dass ihr das Studium keiner Rolle je ähnlichen Genuss bereitet habe wie die Rolle der Helena, und rechts beteuerte Frau Geheimrat Weber, dass es überhaupt nur zwei Dinge gäbe, die für sie das Leben lebenswert machten; das eine sei der Verkehr mit prominenten Persönlichkeiten und das andere der Neid ihrer Freundinnen, die ihr diesen Verkehr, wie überhaupt ihre ganze soziale Stellung nicht gönnten.
Carl begnügte sich mit der Frage:
„Ihre Freundinnen sind das?“
„Ja! Die Wenigen, vor denen man keine Geheimnisse hat. Das heisst: dies oder jenes gibt’s für eine Frau in unseren Kreisen ja immer, was ein Dritter nicht zu wissen braucht.“
Und nach dem Blick zu urteilen, mit dem sie ihn umfing, schien sie sich irgend etwas Bestimmtes dabei zu denken. Carl, der nicht weiter darüber nachdachte, erriet es nicht.
Dann hielt irgendwer einen Toast auf ihn, der heiter, gescheit und fesselnd war; hier und da freilich stark an Wilamowitz erinnerte. Für Carl waren diese Minuten, so ungern er an sich im Mittelpunkt einer Rede stand, eine Wohltat, nur begriff er nicht, warum die Damen jedesmal, wenn der Redner eine griechische Sentenz in griechischer Sprache brachte – und das geschah fast nach jedem zweiten Satze – empfindsam die Köpfe senkten und verständnisinnig lachten. Ja, einmal, als der Redner mit einem Homerischen Verse die Kunst feierte, mit der Carl die Stimmung der Landschaft festhielt, drückte Estella von Pforten seine Hand, errötete und flüsterte:
„Was sagen Sie dazu?“
Und das gab denn auch den Anlass, aus dem Carl einmal wenigstens an diesem Abend aus sich herausging und laut auflachte; als nämlich Werner ihm später dies Rätsel löste und sagte:
„Sehr einfach! Die Damen vermuteten natürlich hinter jedem griechischen Satz eine Cochonnerie, taten selbstredend, als verstünden sie sie, erröteten pflichtgemäss und lachten.“
Dem Redner dankte der alte Brand in Carls Namen als dessen Freund und Verleger und versprach, dass dieser Abend, an dem man zum ersten Male „halboffiziös“ dem Dramatiker Carl Holten huldige, einmal literarhistorische Bedeutung erlangen werde. Dann nämlich, wenn das dramatische Werk dieses gottbegnadeten Dichters einmal als Ganzes abgeschlossen zur Beurteilung stehen werde. Und der Tag, dafür verbürge er sich, werde kommen. Nur bäte er – und da setzte das Verständnis der meisten Festteilnehmer aus – der Wesensart Holtens Rechnung zu tragen und ihn nach diesem Abend wieder sich selbst, der Einsamkeit und seinen Bergen zu überlassen. „Dieser Dichter darf nicht, wie so viele vor ihm, ein Opfer seiner Erfolge werden; darf nicht als Zier- und Renommierstück von Salon zu Salon gereicht werden. Ein Adler, den man in einen Käfig sperrt und mit Zucker füttert, wird sich, auch wenn man ihm eines Tages die Freiheit wiedergibt, zu keinem Flug in die Wolken mehr emporschwingen. Stören Sie nicht seinen Flug, indem Sie seine Schwingen lähmen. Lassen Sie ihn unbehindert auf seinen Höhen und in seinen Bergen leben, suchen Sie ihn nicht in Ihre Welt herabzuziehen, in der er doch ewig ein Fremder bliebe.“ Dann wandte er sich wieder an Carl und schloss: „Und nun, Königsadler, erhebe dich zu neuen Flügen! Wir werden, die Herzen offen, den Blick dir zugewandt, abseits stehen und, deinem Fluge folgend, zu dir emporschauen.“
Carl stand auf und reichte dem alten Brand die Hand. Und die Dame ihm gegenüber sagte nicht eben leise zu einer anderen:
„Er mag ja als Dichter bedeutend sein; aber soviel habe ich schon heraus: viel anzufangen ist mit ihm nicht.“
Ueberhaupt bekam die Stimmung jetzt etwas Gezwungenes. Carl, den man nach dem heutigen Erfolge als neue Errungenschaft gesellschaftlich hoch gewertet hatte, war nach Brands Rede nur noch eine imaginäre Grösse. An historischen Reminiszenzen lag diesen Wirklichkeitsmenschen ebenso wenig wie an der Perspektive, die Brand gab und die im Grunde nichts anderes als ein undiskontirbarer Wechsel auf die Zukunft war.
Und wenn man bisher über nichts anderes als über den Dichter und sein Werk gesprochen hatte, so wagte man nun, sich auch anderen Dingen zuzuwenden. Besonders Estella von Pforten wurde Gegenstand der Unterhaltung. Man pries ihre schauspielerische Leistung als Helena, und ein junger Assessor verstieg sich sogar zu der Behauptung:
„Diese Tragödie mag ja literarisch ’ne sehr achtbare Leistung sein; Leben hat se jedenfalls erst durch das Spiel von Fräulein von Pforten bekommen.“
Estella strahlte. Und alles blickte entsetzt zu Holten hinüber. Der sah den jungen Assessor freundlich an und dachte gerade: endlich mal einer, der, unbekümmert um die Wirkung, ausspricht, was er denkt, als Werner dem Redner in die Parade fuhr und sagte:
„Wie können Sie das Spiel von Fräulein von Pforten beurteilen, Herr Assessor, wo Sie heute abend in der Herrnfeldpremiere waren?“
Alles lachte laut auf, Estella senkte den Kopf und dachte: Tölpel! und Frau Geheimrat Weber vervollständigte den Eindruck, den diese Szene auf Carl machte, indem sie ihm zuflüsterte:
„Sie müssen nämlich wissen, dass dieser Assessor sich seit Wochen vergebens um die Gunst Fräulein von Pfortens müht. Die findet aber, dass ihre finanziellen und künstlerischen Interessen bei ihrem jetzigen Freunde besser aufgehoben sind.“
Von den Lügen, die hier im Laufe des Abends die Luft schwängerten und Carl den Atem benahmen, war das die einzige, der man zu Leibe rückte. Und wenn man auch über die Abfuhr, die sich der Assessor holte, gelacht hatte, so bereute man das im nächsten Augenblicke auch schon wieder. Denn, was dem Assessor heute widerfuhr, das konnte genau so gut morgen jedem von ihnen widerfahren. Davor eben schützte einen jene gesellschaftliche Konvention, zu der sich jeder stillschweigend bekannte und gegen die man nur verstiess, wenn man Revolutionär, von Natur taktlos oder schlecht erzogen war.
Das wenigstens war der Standpunkt, den ein Freund des Assessors mit vielen Worten Werner gegenüber vertrat und den der generell auch gelten liess, dessen Anwendung auf den vorliegenden Fall er aber ablehnte.
Carl war unfreiwilliger Zeuge dieser Unterredung als er gleich nach dem Essen den ersten günstigen Augenblick benutzte, um sich unauffällig zu entfernen.
Werner und der junge Mann standen auf dem Flur, der zur Garderobe und von da aus auf die Strasse führte. Hut und Mantel hätte er im Stich gelassen, um von hier fort zu kommen. Aber an diesen beiden musste er vorüber.
Er versuchte es; aber Werner sah ihn schon von weitem, liess den Herrn stehen, ging auf Carl zu und fragte:
„Nanu? wohin so eilig?“
„Lass mich! bitte! ich halt’s nicht mehr aus!“ erwiderte Carl und wollte an ihm vorbei.
„Gut! ich komme mit dir!“ rief Werner.
„Wirklich?“ fragte Carl und war erfreut.
Die Garderobiere reichte die Sachen. Carl griff hastig nach Hut und Mantel und trat ins Freie.
Den Hut in der Hand stand er auf der Strasse, der Wind fegte ihm durchs Haar; er lehnte den Kopf zurück und sah zu dem schwarzbewölkten Himmel, streckte breit beide Arme aus und sagte:
„Endlich!“
„Siehst du denn nicht, dass es giesst?“ rief ihm Werner zu. „Setz den Hut auf!“
Aber Holten schüttelte den Kopf.
„Die Kleider möchte ich mir vom Leibe reissen!“ rief er, „und mich stundenlang von Wind und Regen durchpeitschen lassen! – Ja, geht es dir denn nicht ebenso?“ wandte er sich an Werner – „Hältst denn du das aus? erstickst denn du da nicht?“
„Ich kenne es nicht anders,“ sagte Werner, „aber ich sehe ein, du kannst das nicht.“
„Nie!“ versicherte Carl.
Sie stiegen in einen Wagen.
„Wo willst du hin?“ fragte Werner.
„Lass den Wagen öffnen und dann ins Freie!“
„Undenkbar! bei dem Wetter!“ erwiderte Werner, „du holst dir den Tod!“
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