In der Tat war Nikos‘ Mutter äußerst eigenwillig und mitunter geradezu wehrhaft, was Zweifel oder Kritik an ihren Lieblingsgottheiten betraf: die ägyptische Göttin über Geburt und Tod, Isis, deren Kult längst in Kórinthos Einzug gehalten hatte; Pallas Athene, die Göttin der Weisheit und des Handwerks, und Merkur, der Gott des Handels. Letzterer erfuhr von ihr sehr viel mehr Zuwendung, seit Nikos sich zu den Korinther Großunternehmern zählen durfte.
„Nikosthenes!“, empörte Kassandra sich regelmäßig, weil ihr Sohn weder den Zorn der alten Götter noch den der neuen fürchten wollte und es nicht lassen konnte, Kassandra wegen ihrer Hingabe an sie zu necken.
„Eines Tages wirst du deine Respektlosigkeiten noch bereuen. Ich hoffe inständig, dass ich deine Bestrafung durch die Götter nicht erleben muss.“
Ein junger Mann betrat den Laden und gab mit zitternder Stimme Grabschalen für seine sterbende Frau in Auftrag. Während er mit Phaistos Art und Dekoration der Gefäße besprach, kam Nikos zurück, warf einen flüchtigen Blick auf Leanders Werk und nickte zufrieden.
„Ach, bevor ich es vergesse“, sagte er zu Kynthia. „Wir haben eine Einladung für morgen Abend.“
„Von Demetrios?“
„Nein, von Gaius.“
„Oh.“
Gaius war sehr reich, und Kynthia überlegte ein wenig besorgt, ob sie etwas Passendes zum Anziehen hatte. Nikos erriet ihre Gedanken.
„Keine Sorge: Es wird keine besonders förmliche Angelegenheit. Wenn mich nicht alles täuscht, will Gaius mit dem Essen nur ein paar Zuhörer anlocken für seinen Onkel, der gerade bei ihm zu Gast ist, den Weisen Eumelos. Phaistos darf auch mitkommen.“
„Das wird er sich nicht entgehen lassen“, vermutete Kynthia.
„Und bist du auch dabei, Liebes?“
Sie nickte. Dem Geschwätz der meisten Philosophen konnte sie zwar wenig abgewinnen, aber für einen Abend in gepflegter Gesellschaft war sie immer zu haben.
* * *
Am nächsten Abend überließ Kynthia es der alten Rubia, dafür zu sorgen, dass Leander früh genug ins Bett ging, tauschte ihre ungefärbte grobe Arbeitskleidung gegen ihren grünen Ausgeh-Chiton mit der dazu passenden hellgrünen Palla, die bei Sonnenlicht ihr Haar und den dunkleren Chiton durchschimmern ließ. Sie freute sich über Nikos anerkennenden Blick und sein Zwinkern, als sie vor ihm stand. Während sie ihm dafür einen Kuss auf die Wange hauchte, hörte sie schon Phaistos‘ Schritte auf der Treppe, die vom Laden in die Wohnung hinaufführte. In Begleitung der beiden Männer machte Kynthia der Weg durch die Nebenstraßen vom Nordmarkt zur Agorá nichts aus, und in ihrer besten Kleidung überquerte sie gern den riesigen Marktplatz. Es war schon wieder viel zu lange her, dass sie und Nikos ausgegangen waren.
Gaius‘ Stadtvilla lag in einer sauberen, gepflasterten Straße hinter der südwestlichen Ladenreihe an der Agorá. Hinter einer Vierergruppe von Gästen, die alle deutlich vornehmer gekleidet waren als sie selbst, betraten sie über drei Marmorstufen den Eingangsbereich. Das Vordach wurde von zwei Säulen in kräftigem Rot getragen. Von einem bemerkenswert gut gekleideten Sklaven wurden sie durch die schwere Eisentür und durch die Eingangshalle ins Atrium geführt. Kynthia hatte Gaius noch nie in seinem Zuhause besucht. Sie hatte ja gewusst, dass er sehr reich war. Dennoch war sie überwältigt von der Pracht dieser Villa und fragte sich einmal mehr, ob Nikos jemals der Gedanke kam, dass er sich mit einem Geschäftspartner zusammengeschlossen hatte, dem er in keiner Weise das Wasser reichen konnte. Sie sah ihn von der Seite an, hoffte zu erkennen, wie er sich in dieser Umgebung fühlte. Aber ein Mann, den Kynthia nicht kannte, trat von der anderen Seite an sie heran und begann ein Gespräch mit Nikos. Er stellte sie kurz vor, aber sein Name sagte ihr genauso wenig wie sein Gesicht.
„Ich sehe mich hier mal ein wenig um“, raunte sie Phaistos zu. „Ich finde euch dann schon wieder.“
Er nickte, die Arme verschränkt, den Blick auf das Mosaik auf dem Fußboden gerichtet. Kynthias Blick fiel auf das in helles Licht getauchte Impluvium9.Hier würde sie ihren Hausrundgang beginnen.
Vor jeder der vier Marmorsäulen, die das derzeit wasserlose Impluvium in der Mitte des Raumes umrahmten, stand eine Grünpflanze in einer schlichten Keramikschale. Auf der Längsseite, an der Kynthia stand, streckte eine Marmorstatue mit einem vollkommenen, von kurzen Locken umrahmten männlichen Gesicht in wallender Toga sehnsuchtsvoll die Arme nach seiner Geliebten auf der anderen Seite aus. Diese schien nachdenklich in das Impluvium zu blicken, die linke Hand locker an der Seite, während die rechte ihren Chiton raffte, der so immerhin ihre zarten nackten Zehen den Blicken des Betrachters preisgab. Kynthia hob den Blick zu den Wänden um das Impluvium herum: Große Rechtecke in kräftigem Grün waren durch goldfarbene Umrahmungen in kleinere Rechtecke unterteilt. Zur Decke hin schlossen sie in einem wulstigen Vorsprung ab.
So viel Marmor, staunte Kynthia und sah einen Augenblick lang ihre eigene Wohnung vor sich: Wände aus Sandstein, gelb getüncht und längst renovierungsbedürftig, kein einziges Ornament und natürlich keine Spur von Marmor.
Zu ihrer Rechten führte eine dreistufige Treppe zu einem schmalen Säulengang hinauf. Durch mehrere, mit verschnörkelten Eisenstangen vergitterte Öffnungen fiel das letzte Tageslicht herein. Sie ging die Treppe hinauf und versuchte einen Blick in einen Raum zu erhaschen, aber der Eingang war mit einem Vorhang aus schwerem Stoff verdeckt. Einen Moment lang überlegte sie, ob sie ihn ein Stück zur Seite schieben sollte, widerstand aber der Versuchung und sah sich stattdessen im Säulengang um.
In der Mitte zwischen zwei Fenstern stand der Hausaltar an der Wand – oder einer der Altäre, gewiss gab es mehrere in einer Villa wie dieser. Zu beiden Seiten neben dem Altar stand jeweils eine Schmuckamphore, verziert mit Motiven aus der Götterwelt. Nikos hatte sie in Gaius‘ Auftrag als Hochzeitsgeschenk für dessen zweite Frau Lukrezia hergestellt. Das war jetzt ziemlich genau ein Jahr her. Gaius hatte die Amphoren selbst abgeholt und bei der Gelegenheit Nikos gefragt, ob er für ihn in der Ziegelei arbeiten wolle. Sein Onkel hatte ihm das Ziegelwerk vererbt, und auch die Ehefrau hatte Gaius vom Bruder seines Vaters übernommen: Als er schwer erkrankte, hatte der Onkel die Scheidung veranlasst. Auf diese Weise hatte er Lukrezia den Witwenstand erspart.
Kynthia betrachtete gerade die Totenmaske in einer der beleuchteten Nischen, als sie von einer weiblichen Stimme angesprochen wurde.
„Mein verstorbener erster Mann. Und Gaius‘ Onkel, natürlich.“
Kynthia drehte sich um und lächelte. „Salve, Lukrezia. Danke für die Einladung.“
Die Gastgeberin lächelte zurück und hauchte Kynthia einen Kuss auf jede Wange. Während Lukrezia sie aufklärte, von wem die Totenmasken in den drei anderen Nischen stammten, betrachtete Kynthia den feinen dunkelroten Chiton der Hausherrin. Ob er wohl ganz aus feinster Wolle bestand? Oder war da sogar Seide hineingesponnen worden? An den Schultern hielten goldene Spangen das mit Goldbesatz gesäumte Gewand so zusammen, dass es nicht verrutschen konnte. Lukrezias Halsschmuck war ebenfalls ein Blickfang: goldene Rechtecke wechselten sich mit Kugeln aus Jaspis ab, und die schweren Ohrgehänge waren passend dazu angefertigt worden. Jetzt kam sich Kynthia in ihrem mit Lederbändern befestigten Chiton aus vergleichsweise grober Wolle geradezu ärmlich vor. Auch das Armband und das Collier aus Bernstein hätte sie am liebsten versteckt.
Lukrezia sah sie an. Hatte sie Kynthia etwas gefragt? Dann wusste sie spätestens jetzt, dass Kynthia ihr nicht einen Moment lang aufmerksam zugehört hatte. Ihr fiel nichts Klügeres ein, als die Gastgeberin nochmals freundlich anzulächeln. Vielleicht reichte das ja als Antwort. Lukrezia musste sie für völlig beschränkt halten, aber wenn dem so war, überspielte sie es gekonnt.
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