Jesco erzählt: »In jenen Zeiten, als Botschafter noch mit der Kalesche, im Zylinder und ordensgeschmückt vorfuhren, war die Küche des Botschafters ein Teil der kulturellen Repräsentation seines Landes. Heute findest du diese noch bei den Franzosen. Sie kostet Geld. Ein Botschafter der Bundesrepublik Deutschland muß seine Einladungen aus der eigenen Aufwandsentschädigung bezahlen.«
»Wie wurdest du eigentlich Seine Exzellenz, der Herr Botschafter?«
»Ganz einfach: Willy Brandt schickte mich 1971 nach Israel, zu Golda Meir.«
»Jerusalem gilt nicht gerade als gemütlicher Posten. Hat er eben deshalb dich erwählt?«
»Du warst ja hier in München Reporter bei den Olympischen Spielen, als der Anschlag auf die israelische Mannschaft verübt wurde. Ich erlebte die Reaktion in Israel, mußte versuchen, sie abzufangen. Weiß Gott, keine ›gemütliche‹, aber eine wichtige Aufgabe.«
»Die du nicht allein, aber wohl auch deiner SPD-Zugehörigkeit verdanktest. Dennoch hat dir nie jemand nachgesagt, du seist ein ›SPD-Botschafter‹ gewesen.«
»In die SPD bin ich hier in München eingetreten, als ich bei der Süddeutschen Zeitung war und mich Waldemar von Knoeringen, damals Landesvorsitzender der SPD Bayerns, politisch am meisten überzeugte. Später in Bonn kam ich Brandt recht nahe und empfinde es als Ehre, sagen zu dürfen, daß ich mit ihm befreundet bin.«
Das Dessert ist serviert: Blätterteigtüte mit Beeren und VanilleEis. Zum Mokka werden frische Pralinen gereicht. Leider kein Platz mehr dafür im Magen. »Schade«, sage ich, »man müßte sie einpacken.«
»Dazu gibt es eine Geschichte«, Jesco – sonst kerzengerade am Tisch sitzend, Ellenbogen angelegt – lehnt sich behaglich zurück. »Mein Vater absolvierte, wie es sich gehörte, als junger Kerl seine Zeit als Page bei Hofe in Berlin. Wenn Seine Majestät, Wilhelm II., die kaiserliche Familie und die Gäste das Mahl beendet hatten, griffen sich die Pagen die übriggebliebenen Leckerbissen und füllten damit Wachstuchtaschen, die sie in die Uniform eingenäht hatten.«
Es ging knapp und sparsam zu in den Häusern des preußischen Landadels, zumal in Hinterpommern. »Das große Abenteuer meines Vaters waren seine Jahre als Offizier der Schutztruppe im afrikanischen Deutsch-Kamerun vor dem Ersten Weltkrieg. 1919 führte er ein Freikorps, dann ein langsamer Aufstieg in der Reichswehr, dann Hitler, den er verachtete. Auch kein leichtes Leben.«
»Wie würdest du dein Verhältnis zum Vater charakterisieren?«
»Respekt.«
»Und das deiner vier Töchter zu dir?«
Er erhebt sich zu vollem Gardemaß, rückt seiner Frau den Stuhl und sagt: »Da zitiere ich am besten den alten Fontane mit dem Schlußsatz der Effi Briest: Ach laß, Luise, das ist ein weites Feld . . .«
FREUNDE, DAS LEBEN IST LEBENSWERT!
Professor Sontheimer, Politikwissenschaftler
am Geschwister-Scholl-Institut der
Münchner Universität, gefeierter Redner auf
Evangelischen Kirchentagen,
scharfsinniger Interpret Thomas Mannscher Ironie:
Er ist bedächtig, bescheiden und zuweilen
fast scheu. Man könnte sich ihn als Weinbauer in
den Reben des badischen Kaiserstuhls vorstellen . . .
Am Nebentisch nimmt Hans Jürgen Bäumler Platz, um ihn sieben Frauen. »Eine toller als die andere«, sagt Frau Sontheimer (Berlinerin). Ich versage mir hinzuzufügen: »Eiskunstläufer müßte man sein.« Der Professor aber schaut mich so hintergründig an mit seinen dunklen Augen hinter scharfer Brille, als dächte er dasselbe. Zweifellos aber würde sein so hochgeehrter kritischer Geist sofort abwiegeln, etwa so: »Sieben? Na, na . . .«
Otto Koch, mein Namensvetter, jedoch nicht verwandt oder verschwägert, betrachtet uns inzwischen väterlich mit erwartungsvollen Augen unter hoher weißer Mütze und über urigem Bart. Natürlich empfiehlt er sein Semmelknödelsoufflé, und natürlich denken wir dabei an Karl Valentins unvergeßlichen Dialog mit Liesl Karlstadt über die korrekt bayerische Aussprache des Wortes Semmeln-Knödeln. Chefkoch Koch versteht unser Lachen hoffentlich nicht falsch, denn er erklärt uns nun sehr ernsthaft seine Philosophie der Veredelung der bayerischen Volksküche und verweist dezent auf eine Weißwurst von Meeresfrüchten auf Senfbutter in seiner großen Speisekarte.
Inzwischen füllt Sommelier Marcel die Pokale mit dem Champagner des Hauses, und Professor Sontheimer erregt sofort das Entzücken des Oberkellners (»Moi, je suis Marcel de Lyon, Monsieur!«), als er mit ihm in makellosem Französisch über Lagen und Finessen der Weine der Champagne parliert. Schließlich hat der Homme de lettre Kurt Sontheimer in diesem Jahr die Memoiren Raymond Arons ins Deutsche übertragen und dafür – auch dafür – viel Lob geerntet. Der bedeutendste französische Politikwissenschaftler und Soziologe unserer Zeit steht zweifellos dem Denken Kurt Sontheimers nahe, und sollten sich beide Herren einander dermaleinst auf dem Parnaß der erlauchten Geister des Jahrhunderts begrüßen, werden sie die großen Gegenstände dieser Welt hier unten aus brüderlicher Sicht gemeinsam bedenken und bekritteln.
Die Stimmung des Abends ist aufgekratzt. Die Sontheimers wollen am anderen Morgen in den Urlaub nach Portugal aufbrechen. Der Professor hat einigen Ärger an der Uni in München und eine große Ehrung in Bonn hinter sich und – einen Herzinfarkt vor einigen Monaten. Ich schaue ihn mir näher an. Ich fand ihn immer vitaler, robuster, als er auf den ersten Blick wirkt und als seine sanfte, stets freundlich-verbindliche Art ahnen läßt. Hat ihn die durchaus lebensgefährliche Herzattacke verändert? Will der 57jährige nun womöglich in »die Zugabe« an Lebenszeit möglichst viel hineinpressen? Oder wuchs ihm klärend-abklärende Distanz zu?
Wir essen und trinken zu gut, reden zuviel, als daß ich so ernste Fragen an diesem Abend beantwortet finden könnte. Was verschlägt’s? Unsere Damen und wir beiden alten Freunde schwatzen und lachen kreuzweise durcheinander. Habe ich Kurt je so heiter erlebt? Oder ist jetzt doch ein bißchen mehr Lebenshunger in der Art, wie er diagonal zwischen den Themen hin und her hüpft, das Glas hebt, die Zigarette unterdrückt. Ich denke, später vor der Tür wird er singen: »Freunde, das Leben ist lebenswert . . .«
Das tut er jedoch keineswegs. Es wäre dem strikten Verkünder von Aufklärung und Rationalismus wohl doch zu enthusiastisch, zu emotional und unkontrolliert. Wir sprechen vom Reisen und – wie könnte es anders sein – vom Zustand der Demokratie »in diesem unserem Lande«. Es amüsiert ihn der »preußische Feldwebelbart« Marcels de Lyon, ein Bilderbuch-Moustache. Aber sein nächster Satz ist ernst und lautet: »Nein, die Gefahr der Verführung besteht nicht mehr. Ich habe Vertrauen in die politische und geistige Entwicklung der Bundesrepublik.«
»Haben wir der Nation etwas zu sagen?« fragt er mich später. »Und wer hat ihr etwas gesagt? Wer ist heute das geistige Deutschland? Marion Dönhoff, Weizsäcker, dieser Glücksfall eines Bundespräsidenten?«
Der gab ihm die Ehre, als er vor wenigen Wochen in Bonn den Ernst-Robert-Curtius-Preis für Essayistik erhielt. Hans Maier sprach die Laudatio. Der bayerische Kultusminister würdigte Sontheimers Standardwerk »Grundzüge des politischen Systems in der Bundesrepublik«, seine Arbeiten über die Ursachen des Scheiterns der Weimarer Republik, sein letztes Buch »Zeitenwende« mit der fundierten Absage eines Sozialdemokraten an alle linken Liebäugler mit »alternativer« Politik.
Sontheimer schätzt Maier, Maier schätzt Sontheimer. Da ist ein Grundkonsensus der beiden Münchner Professoren für Politikwissenschaft, der reicht über die verschiedene Konfessionsund Parteizugehörigkeit hinweg – und trägt. Auch weil sie beide aus der heitersten, lebensoffensten Provinz Deutschlands kommen, aus Baden? Sicher auch das, aber keineswegs nur das. »Laissez-faire – laissez-aller« nennt Kurt Sontheimer in dem informativen, höchst aufschlußreichen Fragebogen, den das FAZ-Magazin an Prominente verschickte, sein Motto (Schlagwort des wirtschaftlichen Liberalismus, insbesondere des 19. Jahrhunderts, nach dem sich die von staatlichen Eingriffen freie Wirtschaft am besten entwickelt / Schlagwort für das Gewährenlassen).
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