Ben Lyttleton
Elf Meter
Die Kunst des perfekten Strafstoßes
VERLAG DIE WERKSTATT
Aus dem Englischen von Olaf Bentkämper.
Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel Twelve Yards. The Art and Psychology of the Perfect Penalty bei Bantam Press, London.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
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Copyright © Ben Lyttleton 2014
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe:
2015 Verlag Die Werkstatt GmbH
Lotzestraße 22a, D-37083 Göttingen
www.werkstatt-verlag.deAlle Rechte vorbehalten Satz und Gestaltung: Verlag Die Werkstatt
ISBN 978-3-7307-0185-0
ABC in Liebe gewidmet
Shay Given war noch nie ein Mann vieler Worte, und als er 20 war, waren es sogar noch weniger. Der Torhüter war damals gerade zu Newcastle United gewechselt, und ich reiste nach Dublin, um ihn vor seinem Debüt für den Klub, einem Freundschaftsspiel gegen PSV Eindhoven, zu interviewen. Er war ein bisschen nervös vor seinem ersten Auftritt, denn in der Vorsaison war er von Blackburn an Newcastles Erzrivalen Sunderland ausgeliehen worden. Der mögliche Gegner zum Abschluss des Vorbereitungsturniers an der Lansdowne Road war sein erster Verein, Celtic Glasgow.
Ich gestand ihm, dass ich ebenfalls nervös war. Sein Handschuhhersteller hatte für mich die Teilnahme an einem Elfmeterschießen in der Halbzeitpause arrangiert. Im Tor würde niemand Geringerer stehen als Pat „Packie“ Bonner. Der Ire war eine Legende und spielte damals noch bei Celtic, weswegen Given sich ja auch anderweitig hatte umschauen müssen. Vor allem mit einer Parade hatte sich der 80-fache irische Nationaltorwart unsterblich gemacht: einem Hechtsprung nach rechts, mit dem er bei der WM 1990 im Elfmeterschießen gegen Rumänien den Schuss des Verteidigers Daniel Timofte parierte. Dieser Moment sollte Bonners Leben für immer verändern: Als David O’Leary anschließend verwandelte, erreichte Irland zum ersten (und bisher einzigen) Mal in seiner Geschichte das Viertelfinale einer WM.
Given horchte auf: „Ah, du schießt einen Elfmeter gegen Packie. Na dann, viel Glück – du wirst es brauchen.“
Anscheinend hatte ich ihn ein wenig von seiner Nervosität ablenken können. Umgekehrt war das aber keineswegs der Fall.
„Dann gib mir einen Rat“, bettelte ich. „Was soll ich machen?“
„Vor allem darfst du dich nicht umentscheiden. Leg dich auf eine Ecke fest, und bleib dabei. Und lass dich auf keine albernen Spielchen ein. Die Psychomasche zieht bei Packie nicht.“
Als es so weit war, versuchte ich mich an Givens Worte zu erinnern. Newcastle lag zur Halbzeit mit 2:1 vorn, aber ich hatte vom Spiel kaum etwas mitbekommen. Als die Mannschaften in die Kabine gingen, stand ich neben dem Spielertunnel und versuchte, Given auf mich aufmerksam zu machen. Das klappte nicht. Mein Kopf war vollkommen leer. Hatte er mir geraten, mich umzuentscheiden oder gerade nicht? Sollte ich es mit Psychotricks versuchen oder nicht? Mir wurde ganz flau, und ich war noch nicht mal auf dem Platz.
Ich tröstete mich damit, dass es ja nur ein Freundschaftsspiel war und höchstens 25.000 Fans an die Lansdowne Road gekommen waren. Außerdem war Halbzeit, und die meisten holten sich eine Tasse Tee, gingen aufs Klo oder blätterten in der Stadionzeitung. Aber das war ein Irrtum. Bonner war, wie gesagt, eine Legende, und viele Zuschauer waren ebenso sehr seinetwegen gekommen wie wegen des Spiels. Ich war ziemlich erstaunt, als einer meiner Kontrahenten (drei Spieler traten gegen Bonner an) gnadenlos ausgepfiffen wurde, als er den Ball auf den Elfmeterpunkt legte. Die Fans hinter dem Tor versuchten, ihn durch allerlei Sperenzchen aus dem Konzept zu bringen. Einer ließ sogar die Hosen runter und präsentierte uns seinen blanken Hintern. Aber es nützte nichts: Mein Gegner blieb cool, nahm einen langen Anlauf und schoss den Ball flach und hart in die rechte untere Ecke. Tor.
Ich war als Nächster dran. Ich versuchte, ebenfalls cool zu bleiben, und legte den Ball in aller Ruhe auf den Punkt. Ich ging drei Schritte zurück und schaute auf. Tief durchatmen. Das Tor sah ziemlich groß aus. Aber Bonner auch. Noch einmal tief durchatmen. Ich hatte mir vor kurzem noch einmal das Elfmeterschießen gegen Rumänien angesehen und bemerkt, dass Bonner immer dann nach rechts sprang, wenn ein Spieler einen kurzen Anlauf nahm. Das ergab Sinn: Um bei einem kurzen Anlauf Kraft hinter den Schuss zu bekommen, schießt ein Spieler eher auf seine natürliche Seite, sprich: Ein Rechtsfüßer würde die von ihm aus gesehen linke Ecke anvisieren.
Noch einmal durchatmen, ein kleiner Hopser, und los ging’s. Zunächst machte ich einen Schritt nach links, um den Anlaufwinkel zu vergrößern. Dann rannte ich drei Schritte und traf den Ball sauber mit dem Vollspann. Ich sehe noch die leichte Rotation des Balles, der Richtung Innenseite des Seitennetzes flog, das ideale Ziel für einen Schützen. Bonner hatte zuerst einen Schritt nach rechts gemacht und war auf dem falschen Fuß. Ich hatte Packie Bonner auf dem falschen Fuß erwischt! Noch dazu im eigenen Stadion! Ich wollte Given unbedingt davon erzählen und fragte mich, ob er in der Kabine auf einem Monitor zugesehen hatte.
Das Drama war noch nicht vorbei. Mein letzter Kontrahent hatte verschossen, und ich musste noch einmal antreten, um im Wettbewerb zu verbleiben. Meine Einstellung war jetzt eine ganz andere. Statt nervöser Anspannung verspürte ich nun Zuversicht. Die Zuversicht wich wiederum anmaßender Arroganz. Ich wusste, ich würde auch diesmal treffen. Bonner war einfach nicht mehr der Teufelskerl, der er mal gewesen war, er würde mich nicht durchschauen. Ich hatte ihn da, wo ich ihn haben wollte. Und jetzt würde ich ihm, vor den Augen seiner treuesten Fans, zeigen, wo der Hammer hängt.
Diesmal wählte ich einen geraden, etwas längeren Anlauf. Das suggerierte einen kraftvollen Schuss auf Bonners rechte Seite. Stattdessen wollte ich den Ball in die Mitte chippen, wie einst Antonín Panenka bei seinem legendären Tor gegen Sepp Maier im EM-Finale von 1976 – das erste und bisher einzige Mal, dass Deutschland ein Elfmeterschießen verlor. Ich erfuhr erst später, dass Panenka zwei Jahre lang an diesem einen Schuss gefeilt hatte: an der Täuschung, dem Anlauf, wie er den Ball traf und der Schussgeschwindigkeit. Ich hingegen hatte ihn kein einziges Mal geübt.
Das sah man dann auch. Schon beim Anlauf geriet alles durcheinander, mein linker Fuß war zu weit weg vom Ball, um ihn zu schießen, und als ich noch einen Schritt machte, kam ich ins Straucheln. Ich geriet über den Ball und brachte nicht mehr als ein jämmerliches Schüsschen mit rechts zustande. Der Ball rollte kläglich Richtung Tormitte direkt auf Bonner zu. Hätte der ihn nicht aufgenommen, hätte es der Ball wahrscheinlich nicht einmal über die Linie geschafft. Das war mein Ikarus-Moment. Nicht Bonner, sondern ich selbst war vorgeführt worden. Ich hörte nicht mal die Menge johlen, pfeifen oder lachen. Vermutlich tat ich den Leuten einfach nur leid. Das machte die Sache nicht gerade besser.
Innerhalb von nur fünf Minuten hatte ich durchlebt, welchen Ruhm und welches Leid ein Elfmeter mit sich bringen kann. Ich realisierte, dass mehr hinter dem Duell zwischen Torhüter und Schützen steckt, als ich geahnt hatte: Körpersprache, wie man den Ball zurechtlegt, Blickkontakt, Anlaufwinkel – und das sind nur die Dinge, die man sieht, bevor der Ball geschossen wird. Ich hatte den mentalen Kampf unterschätzt, den man weniger mit dem Keeper als mit sich selbst auszutragen hat. Und natürlich hatte ich es als waschechter Engländer nicht für nötig gehalten, vorher anständig zu trainieren. Ja nun, bei mir zu Hause im Garten hätte ich ja wohl kaum den Druck und die Atmosphäre nachstellen können, oder?
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