Postiga erhöhte mit einem cleveren Schuss auf 2:1 für Portugal. 2004 hatte er den Ball in Panenka-Manier in die Mitte gechippt, und sein langer, gerader Anlauf deutete auf einen ähnlichen Versuch hin. Robinson blieb stehen, aber Postiga schoss in die linke Ecke.
Jamie Carragher war als Nächster an der Reihe. Er war zwei Minuten vor Ende der Verlängerung, offenbar im Hinblick auf das Elfmeterschießen, für Aaron Lennon eingewechselt worden. Fünf Jahre zuvor hatte er für Liverpool im Finale des Worthington Cups den entscheidenden Elfer gegen Birmingham verwandelt, seither aber keinen einzigen mehr geschossen.
Er legte sich den Ball zurecht, machte kehrt und startete dann übergangslos seinen Anlauf. Aber der Schiedsrichter hatte den Schuss noch nicht freigegeben, und als Carragher zwei Schritte vom Ball entfernt war, pfiff Elizondo zweimal, um zu signalisieren, dass der Versuch nicht zählen würde. Hätte Carragher noch abstoppen können? Wenn er gewollt hätte, wohl schon, aber er lief weiter und schoss einen exzellenten Elfmeter, dem Ricardo nur hinterherschauen konnte.
„Carragher wandte sich ab und rannte dann sofort los, aber der Schiedsrichter hatte nicht gepfiffen, also hob ich nur die Hände und meinte: ‚Warte, warte.‘ Der Referee lächelte ihn an und sagte: ‚Warte auf meinen Pfiff.‘ Ich sah Carragher an und dachte: ‚Das war’s für dich, den halte ich.‘ Der Kerl war fertig, vollkommen durcheinander, er war viel zu nervös.“
Vielleicht seine beste Parade: Der portugiesische Torhüter Ricardo hält Gerrards Elfmeter im WM-Viertelfinale 2006 gegen England.
Würde Carragher das Gleiche versuchen oder etwas anderes? „Ich hatte im Gefühl, dass er etwas anderes probieren würde“, sagte Ricardo, und er sollte recht behalten: Carragher visierte die andere Ecke an, und der Keeper lenkte den Ball an die Querlatte. Portugal lag 2:1 vorn und hatte mit dem nächsten Schuss die Chance, das Spiel für sich zu entscheiden.
„Als Cristiano Ronaldo zum Elfmeterpunkt ging, sah er zu mir herüber. Ich streckte die Hände aus, um anzudeuten, dass es vorbei sei. ‚Das Ding ist gelaufen’, sagte ich. Ich wusste, er würde treffen. England war bereits geschlagen.“
Ronaldo ließ sich Zeit. Er küsste den Ball, bevor er ihn auf den Punkt legte, und holte tief Luft. Er wartete einen Moment, nachdem der Schiedsrichter gepfiffen hatte. Sein Elfmeter war perfekt.
Ich wollte von Ricardo wissen, warum England wieder mal verloren hatte. „Diese großen Namen verschießen, und das liegt nicht daran, dass sie die falschen wären. Sie spielen bei den besten Klubs der Welt, aber was in einem solchen Moment in ihnen vorgeht – ich weiß es nicht. Das ist reine Kopfsache. Sie müssen an ihrer mentalen Stärke arbeiten.“
Ricardo meinte, in den beiden Spielen gegen England noch einen weiteren Vorteil gehabt zu haben: Er war selbst früher Stürmer gewesen und hatte Elfmeter geschossen. Für seinen ersten Verein Montijo spielte er zumeist im Angriff und ging nur dann ins Tor, wenn der Gegner ein großer Klub wie Sporting oder Benfica Lissabon war. Er war kopfball-stark und spielte nach seinem Wechsel mit 17 zu Boavista Porto eine Weile Mittelstürmer, bevor ihm geraten wurde, dauerhaft ins Tor zu gehen, wenn er es als Profi schaffen wollte. Trotzdem übte er weiterhin Elfmeter, oft für sich allein, ohne einen Torwart im Kasten. „Ich versuchte, den Ball genau zu platzieren. Schnörkellos und so oft es ging. Kein Problem.“ Schon bald war er Boavistas designierter Elfmeterschütze. Er traf fünfmal vom Punkt, so auch 2004 im Viertelfinale des UEFA-Pokals im Elfmeterschießen gegen Málaga.
Wenn Ricardo seine beste Parade 2006 gegen Gerrard zeigte, so hatte er seinen besten Elfmeter bereits zwei Jahre vorher gegen England bei der EM 2004 geschossen. Eigentlich war er als sechster Schütze vorgesehen, aber nachdem Rui Costa den dritten Versuch vergeben hatte, verlor er die Übersicht. Er konzentrierte sich auf den Spielstand statt auf die Reihenfolge. In Lissabon zu spielen, bedeutete für die Portugiesen keinen so großen Vorteil, wie man hätte meinen können – Ricardo zufolge hielt sich die Zuschauergunst in etwa die Waage –, aber Ricardo schöpfte stattdessen Zuversicht aus einer unerwarteten Quelle.
„Ich bemerkte den Linienrichter“, erzählte er mir. „Jedes Mal, wenn ich fast einen Elfmeter hielt, atmete er schwer aus. Ich sah ihn an und dachte: ‚Er will, dass wir gewinnen.‘ Er schien erleichtert, wann immer wir einen Elfmeter verwandelten. Mir war so, als drückte er uns die Daumen. Ich weiß nicht, ob es wirklich so war, jedenfalls erschien es mir so. Vielleicht habe ich nur nach etwas gesucht, an dem ich mich festhalten konnte, aber es half.“
Nach jeweils sechs Elfmetern stand es 5:5. Den sechsten Schuss, für den eigentlich Ricardo vorgesehen war, hatte Postiga ausgeführt und verwandelt. Dann hatte Ricardo eine Überraschung parat. „Wir hatten Elfmeter trainiert, und ich hatte mir ein paar DVDs angesehen, um die englischen Spieler zu studieren“, erinnerte er sich. „Aber als ich Darius Vassell auf mich zukommen sah, dachte ich: ‚Kacke, warte mal. Ich habe auf der DVD jeden Spieler Elfmeter schießen sehen bis auf diesen Kerl. Nichts! Hat er überhaupt schon mal geschossen?‘ Ich schaute auf meine Hände. ,Mist, ich muss irgendwas tun!‘ Also riss ich mir die Handschuhe runter, ich zog sie einfach aus. Vassell schaute mich an, dann den Schiedsrichter, der nur meinte: ‚Ist schon okay so.‘“
Ricardo fuhr in seinen Erinnerungen fort: „Ich weiß bis heute nicht, warum ich das getan habe. Ich hatte das vorher nie gemacht und auch seitdem nicht mehr, aber ich hatte das Gefühl, irgendetwas tun zu müssen. Ich war ganz auf den Moment konzentriert. Selbst heute, wenn ich zurückdenke, kann ich mich nicht an den Lärm erinnern. Ich höre gar nichts. Alles ist vollkommen still. Ich sah, dass Vassell sehr nervös war und am liebsten woanders gewesen wäre. Ich wusste, dass ich als Nächster schießen würde, und sagte zu mir: ‚Ich werde den hier halten und den nächsten versenken.‘“
Und wirklich ahnte Ricardo die richtige Ecke und hielt. Als Nuno Valente, der als Schütze nach Postiga vorgesehen war, sich anschließend den Ball schnappen wollte, scheuchte er ihn weg. „Ich war an der Reihe, denn ich hatte meinen Einsatz verpasst. Nuno lief schleunigst in den Mittelkreis zurück. Ich hatte ihn noch nie so schnell laufen sehen! David James stand im Tor, und als er seine Arme ausbreitete, sah er so groß aus wie ein Haus. ‚Wo schieße ich bloß hin, Mann?‘ Genau dahin, wo er ihn nicht erreichen kann, denn er ist ein ziemlich großer Kerl: in die Ecke. Ich bewahrte einen kühlen Kopf. Das war ein großer Moment für mich.“
Nachdem die Feierlichkeiten der Portugiesen abgeklungen waren, erhielt Ricardo einen Anruf seines Handschuhherstellers. Sie freuten sich, dass er zum Sieg beigetragen hatte, aber nicht so sehr, dass er den entscheidenden Elfer mit bloßen Händen gehalten hatte. „Sie forderten mich auf, es nicht noch einmal zu tun, und das habe ich auch nicht.“
Sieben Jahre später schloss sich Ricardo dem damaligen englischen Zweitligisten Leicester City an. Der Trainer, der ihn holte, war Eriksson. An seinem ersten Tag beim Klub saß Ricardo in der Umkleidekabine, als er plötzlich einen Schrei vernahm: „Guten Morgen, guten Morgen, aaaaah! – Was machst du denn hier!?“ Es war Darius Vassell. „Er war ein netter Kerl, wir haben viel über den Moment geredet.“
Die Kollegen nutzten die Gelegenheit, um Vassell noch einmal vom Punkt gegen Ricardo antreten zu lassen. Wieder hielt Ricardo. „Wir lachten darüber. Mann, das war schon lustig. Aber dann erzählte er mir, dass er damals vor dem Spiel gegen Portugal zu Eriksson gegangen sei und gemeint habe: ‚Trainer, sollte es zum Elfmeterschießen kommen, verschonen Sie mich bitte. Ich bin nicht darauf vorbereitet und zu jung dafür.‘ Der Bursche war fast noch ein Kind.“ Nach seinem verschossenen Elfmeter gegen Portugal spielte Vassell nie wieder für England.
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