„Deck!“ rief Sam Roskill halblaut nach unten. „Da treibt etwas, vorlich an Steuerbord, etwa eine halbe Meile entfernt!“
„Für was hältst du es?“ fragte Blacky zurück, der auf der Kuhl Wache ging.
„Ich weiß nicht. Die ‚Ghost‘ ist es kaum, und für ein Fischerboot ist es zu weit draußen.“
Wenig später war die Mannschaft an Deck versammelt. Der Kurs wurde geändert. Die Schebecke lief erst über Steuerbordbug und entfernte sich scheinbar von dem gesichteten Objekt, ging dann aber auf den anderen Bug und schloß schnell wieder auf.
Dan O’Flynn stand auf der Back und beobachtete ebenfalls. Ein winziges Licht tanzte auf den Wellen.
„Sieht so aus, als hätten wir ein Floß vor uns!“ meldete Sam Roskill aus der Tonne.
Wenig später erkannte es auch Dan von seinem tiefergelegenen Standort.
„Da sind Leute auf dem Floß!“
„Die Laternen an!“ befahl Hasard.
Augenblicke später verbreitete die Schebecke einen fahlen Schein um sich herum. Die große Hecklaterne spiegelte sich vielfach im Wasser.
Außerdem zog die Dämmerung herauf. Der Himmel nahm allmählich eine graue Färbung an.
„Da, sie haben uns entdeckt und winken!“ rief Dan.
Und Sam Roskill fügte aus der Höhe hinzu: „Es sind zwei Männer.“
Der Seewolf gab den Befehl zum Beidrehen. Bei fünfzig Yards Distanz wurde das Großsegel ins Gei gehängt und die Fock herumgeholt. Mit immer noch beachtlicher Geschwindigkeit schoß die Schebecke auf das kleine Floß zu und schien es untermangeln zu wollen. Aber Pete Ballie an der Pinne verstand sein Handwerk wie überhaupt jeder der Arwenacks. Er legte Ruder, als die backgebraßte Fock die Fahrt zu vermindern begann.
Gerade noch fünf Yards trennten letztlich den Dreimaster und das Floß, das alles andere als seetüchtig wirkte. Auf zwei roh zugehauenen, ungeschälten Baumstämmen war ein dichtes Geflecht aus Bambus verschiedenster Stärke mit Lianen vertäut.
Die Zwillinge warfen die Belegleinen aus.
Gleich darauf stutzten sie. Vertraute Laute erklangen. Die beiden Männer, ihrem Aussehen nach stammten sie ohnehin aus der Alten Welt, redeten spanisch.
„Sieht ganz so aus, als würde der zu erwartende Kuchen immer kleiner“, sagte Ben Brighton. „Jetzt geben sich nicht nur Portugiesen und Holländer ein Stelldichein, sondern auch die Dons sind da. Fehlt nur noch, daß das nächste Schiff, dem wir begegnen, für die Hanse segelt.“
„Genau so wird es sein“, bekräftigte Mac Pellew.
Don Juan de Alcazar brachte inzwischen die Jakobsleiter aus. Er beugte sich über das Schanzkleid und rief nach unten: „Ich nehme an, ihr könnt aus eigener Kraft aufentern. Dies ist zwar ein englisches Schiff, aber wir segeln mit gemischter Mannschaft. Also keine Furcht, Señores, niemand an Bord beißt, das kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen.“
Die Arwenacks lachten verhalten.
Hilfreiche Hände streckten sich den Spaniern entgegen und zogen sie über die Verschanzung, als sie nacheinander nach oben kletterten. Beide wirkten zwar mitgenommen, aber noch lange nicht erschöpft. Länger als zwei oder drei Tage trieben sie bestimmt nicht auf dem Floß.
Der eine war ein wahres Gerippe, so dürr, daß man glaubte, bei jeder Bewegung seine Knochen klappern zu hören. Mac Pellew bedachte ihn mit mißbilligenden, abschätzenden Blicken. Wahrscheinlich zerbrach sich der Koch bereits den Kopf darüber, was er alles auftischen müsse, um diese Vogelscheuche zu einem normalen Menschen aufzupäppeln.
„Die Spanier scheinen einen lausigen Koch gehabt zu haben“, flüsterte Jan Ranse neben Mac Pellew. „Denkst du darüber nach?“
„Erst wenn man das Elend sieht, weiß man die eigenen Wohltäter zu schätzen“, erwiderte der Kombüsenmann weise.
Aus tief in den Höhlen liegenden, blutunterlaufenen Augen schaute sich der Don um. Er hatte ein Geiergesicht, das durch die kräftigen Bartstoppeln noch betont wurde.
Der andere Mann war ebenfalls hager, wirkte aber dennoch kräftig. Sein Blick hatte etwas Stechendes, was nicht zuletzt an seinem starren, verkniffenen Gesichtsausdruck lag.
Nachdem Hasard die Spanier seinerseits ausgiebig gemustert hatte, trat er vor. „Ich bin Kapitän Philip Hasard Killigrew. Der Mann neben mir ist Ben Brighton, unser Erster Offizier, und mit Don Juan de Alcazar, einem Landsmann von Ihnen, haben Sie ja schon gesprochen.“
„Julián Carmona, Señor Capitán.“ Der Knochenmann nannte seinen Namen. „Mein Begleiter ist Pilar Aparicio. Wir danken Ihnen und Ihrer Mannschaft für die Hilfe. Es scheint nicht leicht zu sein, vor diesem Kontinent wirklich Freunde zu finden.“
„Was ist geschehen?“ fragte Don Juan.
„Das ist eigentlich mit wenigen Worten gesagt“, erklärte Carmona. „Nur – mit rauher Kehle redet sich’s schlecht.“
Daran hatte im ersten Moment niemand gedacht. Die Spanier wirkten nicht, als wären sie dem Hungertod nahe, und verdursten konnte wegen der häufigen Regengüsse auch keiner. Außerdem lag die Küste ohnehin nur gerade drei Seemeilen querab.
Der Profos zauberte ein halbvolles Rumfläschchen hinter seinem Rücken hervor – oder auch ein halbleeres, das lag einzig und allein daran, welchen Standpunkt man vertrat.
„Nicht so hastig trinken“, sagte er warnend. „Wenn einer tagelang nichts gegessen hat, berauscht der Rum sehr schnell.“
„Danke“, murmelte Pilar Aparicio, setzte die Flasche an die Lippen und trank, bis ihm der Rum über die Bartstoppeln rann. Anschließend reichte er das fast leere Fläschchen weiter.
„Unser Schiff war die ‚El Cobayo‘, ein kleiner, schneller Zweimaster mit nur geringer Mannschaft. Der Kapitän wollte sich mit eigenen Augen vom Reichtum Indiens überzeugen und Gewürze bunkern, deren Erlös eine neue Expedition finanzieren sollte. Leider liefen wir einem Portugiesen vor die Rohre.“
„Die Hunde haben uns, ohne zu zögern, angegriffen und versenkt“, ergänzte Julián Carmona. „Fünfzehn Kanonen gegen vier – wir hatten keine Chance.“ Er setzte die Flasche nochmals an, stellte fest, daß sie leer war, und warf sie in hohem Bogen über Bord.
„Das war weiter nördlich.“ Aparicio übernahm wieder das Wort. „Wir hätten nie geglaubt, daß die Portugiesen euch schon so nahe am Tapti-Fluß gefaßt haben.“
„Wann ist das ‚Meerschweinchen‘ untergegangen?“ fragte Hasard.
„Vor fünf Tagen“, sagte der Hagere. Das Knochengestell nickte eifrig dazu. „Wir sind die einzigen Überlebenden. Als die Pulverkammer in die Luft flog, standen wir auf der Back, das hat uns wohl das Leben gerettet. Danach konnten wir uns an aufschwimmenden Fässern festhalten. Bloß die Küste war mies – Mangroven, Sumpf und Urwald. Wir haben versucht, uns nach Süden durchzuschlagen, aber das ist die Hölle. Unmöglich, sage ich euch, nicht nur wegen der Heerscharen von Mücken und der vielen Schlangen.“
„Deshalb also das Floß“, sagte Don Juan. „Besonders seetauglich scheint es nicht zu sein, vom fehlenden Segel ganz zu schweigen.“
„Wir wollten auch nicht aufs Meer hinaus, sondern nur an der Küste entlang nach Süden“, erklärte Julián Carmona.
„Im Süden, in Goa, sitzen die Portugiesen.“
Carmona lachte verhalten. „Engländer müssen nicht alles wissen.“
„Das ist uns auch recht“, sagte Ben Brighton mißlaunig. „Dann setzen wir euch also hier an Land ab. Oder ihr geht mit eurem Bambusfloß wieder in See. Ausrüstung ist ja vorhanden.“
„Was heißt Ausrüstung?“ Der Knochenmann starrte den Ersten Offizier an, als sei er plötzlich vom Donner gestreift worden.
„Nun ja“, sagte Ben. „Ich habe eine Laterne gesehen …“
„Die stammt von der ‚El Cobayo‘ und war zusammen mit Öl und Feuersteinen in einem der Fässer.“
Ben Brighton fuhr ungerührt fort: „Einen Schiffshauer, jeder von euch trägt einen Dolch im Gürtel – und Proviant und ein volles Wasserfaß stellen wir selbstverständlich zur Verfügung.“
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