„Mein lieber Sohn,“ sagte der alte Mann, „du glaubst nicht, wie sehr, sehr leid es mir thut — schrecklich leid — wenn du doch zur Zeit gekommen wärest! Ich mache mir selber Vorwürfe, dass ich dich nicht eher gerufen habe; aber ich gebe dir mein Wort, dass ich bis gestern nachmittag keine Ahnung davon hatte, wie schlecht es mit meinem armen Freunde stand. Sobald ich das erkannte, telegraphierte ich nach dir; leider Gottes zu spät. Wenn du ihn noch lebend angetroffen hättest, hätte er dir sicher vergeben — sicherlich. Ich will damit nicht sagen, dass du dir besondere Vorwürfe zu machen hättest; es ist, weiss Gott, kein Verbrechen, ein Lustspiel zu schreiben. Aber ...“
„Ich glaube nicht, dass mein Onkel mir im Grunde des Herzens wirklich böse war,“ erwiderte der junge Mann ein wenig verwundert. „Aber selbst wenn er mir gezürnt hat, so bin ich doch fest überzeugt, dass er mir vor seinem Tode vergeben hat.“
„Vielleicht — hoffen wir es,“ antwortete Doktor Drysdale, der die Absicht gehabt hatte, mehr zu sagen, sie aber offenbar änderte. Es war ja möglich, dass der Dekan sein beabsichtigtes Testament nicht mehr zu Papier gebracht, oder dass er es noch in letzter Stunde widerrufen hatte. Jedenfalls war es, da die Thatsache früher oder später ans Tageslicht kommen Musste, das Gescheiteste, einstweilen zu schweigen. Er begnügte sich daher mit einigen frommen Redensarten über die Unsicherheit aller irdischen Dinge und mit Entschuldigungen über seines toten Freundes Eigenart, die Fred ein wenig überflüssig dünkten.
Das ganze Verhalten des Rektors war ihm ein Rätsel. Hatte derselbe die Absicht, ihm Vorwürfe zu machen, dass er seinem Onkel gegenüber bis zuletzt trotzig und hartnäckig auf seinem Stücke bestanden hatte? Wenn Fred die Vorwürfe auch nicht ganz ungerechtfertigt finden konnte, so dünkte ihn doch die Zeit, sie zu erteilen, ein wenig schlecht gewählt. War es denn ein Verbrechen, ein Drama zu schreiben? Freilich, hätte er eine Ahnung gehabt, dass es der letzte Wunsch seines Wohlthäters sein sollte, ihn eine andere Karriere einschlagen zu sehen, so hätte er ihm doch wohl willfahrt und nicht seinen Willen durchzusetzen gesucht. Es ist die Pflicht jedes Menschen, sich den Wünschen seiner Wohlthäter zu fügen, das sah Fred jetzt plötzlich klar ein, und nachdem Doktor Drysdale ihn verlassen hatte und der junge Mann sich allein befand, sagte er sich seufzend, dass sein Gewissen ihm sicherlich noch lange Zeit Vorwürfe machen und keine Ruhe lassen würde.
Es gab in den nächsten Tagen so viel für ihn zu thun, dass Fred wenig Zeit hatte, über sich selber nachzudenken. An jedem Morgen sandte ihm Mr. Breffit einen schriftlichen Rat, eine Instruktion, und am Begräbnistage erschien der Rechtsanwalt in Person und brachte den Bruder von des Dekans verstorbener Frau mit, einen Sir James Le Breton, ehemaligen indischen Beamten, mit dem der Dekan, obgleich oder vielleicht weil er ihn nie gesehen hatte, auf ziemlich freundschaftlichem Fuss geblieben war. Auf Mr. Breffits Veranlassung hatte Sir James eine Einladung erhalten, seinem Verwandten die letzte Ehre zu erweisen.
Fred und er waren die einzigen Leidtragenden, die der Dekan hinterliess. Trotzdem war das Begräbnis sehr prunkvoll und das Gefolge sehr zahlreich. Eine Menge hervorragender Gelehrter und Männer der Wissenschaft war aus London herübergekommen, aber sie zeigten es alle, dass sie nur einer Pflicht hatten genügen wollen, und machten sich, sobald die Feier vorüber war, zumeist eilends wieder auf den Heimweg. Nur einige wenige nahmen in des Dahingeschiedenen Wohnung noch ein Frühstück ein, und nachdem auch diese sich verabschiedet hatten, sagte Breffit mit feierlicher, ernster Miene, dass es nun wohl an der Zeit sei, das Testament zu verlesen.
Der Rektor und Sir James Le Breton waren zu Testamentsvollstreckern ernannt und sollten für diesen dem Toten geleisteten Dienst als Zeichen der Erkenntlichkeit die Summe von je hundert Pfund Sterling erhalten. Die wertvolle Bibliothek des Testators war der St. Cyprianer Universität vermacht worden; die Diener erhielten ansehnliche Legate; dann verkündigte Mr. Breffit nach einer Pause mit einem Seufzer, dass „mein Neffe Frederick Musgrave“ die Summe von zehntausend Pfund Sterling erben sollte, und dass das ganze übrige Vermögen an barem Gelde und Grundbesitz „meiner Tochter Laura Fenton“, und im Falle von deren Tode dem nächsten lebenden Verwandten zufallen sollte.
Ob für gewöhnlich der Beruf eines Anwalts unterhaltend ist, hängt natürlich davon ab, was man für einen Begriff mit dem Worte unterhaltend verbindet; mögen nun aber auch die Pflichten eines Anwalts im allgemeinen etwas langweilig sein, so können sie doch gelegentlich dadurch etwas belebt werden, dass sie wirklich dramatische Situationen schaffen, und man wird Herrn Breffit nicht jede Befriedigung missgönnen, die er vielleicht darüber empfand, seine Zuhörer förmlich verblüfft zu haben. Sir James Le Breton, ein magerer, weisshaariger, alter Herr, der sich über das ihm zugefallene Amt des Testamentsvollstreckers nicht sonderlich gefreut und sich darüber nur mit dem Gedanken an die dafür in Aussicht gestellten hundert Pfund Sterling getröstet hatte, sprang auf und rief: „Da schlage das Wetter drein! Seine Tochter, Laura Fenton! Ich habe mir immer eingebildet, diese reizende Nichte sei seit Jahren gestorben und verdorben.“
Freds Erstaunen und Verwunderung waren noch grösser, da er bisher keine Ahnung von der Existenz einer Person dieses Namens gehabt hatte. Er sass mit offenem Munde da und sprach kein Wort.
„Ich bin über ihre Person und über ihren Aufenthalt völlig im Dunkeln,“ sagte Mr. Breffit. „Als der Dekan Musgrave mir zum erstenmal die Ehre erwies, unter meinem Beistande ein Testament zu verfassen, war seine Tochter lange verheiratet, und er dachte nicht im entferntesten daran, ihr etwas zu hinterlassen. Er erwähnte ihrer kaum mir gegenüber. Aus andrer Quelle erfuhr ich indes, dass des Dekans einzige Tochter vor etwa zwölf Jahren eine Ehe schloss, zu der ihr Vater seine Einwilligung versagte, dass er seitdem jede Verbindung mit ihr abbrach und dass sie und ihr Gatte gleich nach ihrer Verheiratung nach Neuseeland auswanderten. Wenn sie noch am Leben ist, so ist sie vermutlich in Neuseeland.“
Sir James Le Breton rieb ungeduldig sein linkes Ohr und meinte: „Wie, zum Teufel, sollen wir die Frau jetzt herschaffen?“ Worauf Mr. Breffit bemerkte: „Dafür haben wir Zeitungen, mein Verehrtester.“
Der Rektor, der bisher geschwiegen hatte, sagte in entschuldigendem Tone, dass es niemand zu verargen sei, wenn er seiner Tochter zürne, weil sie gegen seinen Willen mit ihrem Musiklehrer davongelaufen sei, dass er es aber wohl begreifen könne, wie ein Mann am Rande des Grabes vor allen Dingen noch einmal auf die Stimme der Vaterliebe und dann erst auf — auf andere Pflichten geachtet habe u. s. w.
Mr. Breffit war andrer Ansicht. Es lag ihm fern, die Handlungsweise seines verstorbenen Klienten einer Kritik zu unterziehen, aber er konnte doch die Bemerkung nicht zurückhalten, dass ihm nie ein unbeugsamerer, härterer Charakter begegnet sei, als der Dekan. Damit war die Sache erledigt. Ein kurzes Stillschweigen trat ein. Dann erhoben die Anwesenden sich, um das Zimmer zu verlassen. Der Rektor klopfte Fred mit teilnehmender Miene auf die Schulter; da man aber in derartigen Momenten selten ein passendes Trosteswort findet, so verabschiedete er sich schweigend von ihm und drückte ihm beim Hinausgehen nur noch einmal ernst und wehmutsvoll die Hand.
Mr. Breffit war weniger zartfühlend. Er hatte bei seinen häufigen Besuchen in des Dekans Hause Fred näher kennen gelernt und ihn lieb gewonnen. Zwischen dem Rechtsanwalt und dem mutmasslichen Erben des Dekans hatte sich ein ausgesprochen freundschaftliches Verhältnis entsponnen. Als beide jetzt allein waren, bemerkte Mr. Breffit daher offenherzig: „Weiss Gott, es ist eine Sünde und Schande! Das hätte ich ihm auch geradeswegs ins Gesicht gesagt, wenn ich mir den mindesten Erfolg von meinen Worten versprochen hätte. Aber Sie wissen ebensogut wie ich, dass Ihr Onkel ein Mensch war, bei dem guter Rat nie Zugang fand.“
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