„Ob Sie dadurch überrascht sind, oder nicht, ist mir sehr gleichgültig,“ sagte der alte Mann. „Vielleicht wird sich noch mancher andere darüber wundern — das geht mich nichts an. Jeder ist, so lange er lebt, Herr seines Vermögens und kann darüber verfügen, wie er will. Ich begehe mit der Aenderung meines Testaments eine gerechte Handlung — davon bin ich überzeugt. Und wenn Sie vernünftig dächten, so müssten Sie einsehen, dass ich eben nichts weiter als einen Akt verspäteter Gerechtigkeit damit vollziehe.“
Der Notar sah lächelnd vor sich hin, aber er erwiderte kein Wort. Eine kleine Pause trat ein, dann sagte der Dekan: „Adieu, Mr. Breffit. Wollen Sie die Güte haben, im Hinausgehen die Glocke zu ziehen? Ich danke Ihnen bestens.“
Mr. Breffit sah, dass er entlassen war, erhob sich, verbeugte sich vor dem Kranken und verliess mit den Worten: „Adieu, Herr Dekan!“ das Zimmer. Ein lebender Hund sein, ist besser als ein toter Löwe, aber der alte Löwe da war noch nicht tot, und so lange er einen Atemzug in sich hatte, hörte seine Umgebung nicht auf, voll Scheu und Furcht seinen Befehlen zu gehorchen.
Auf der Treppe warf Mr. Breffit bereits seine an ihm höchst ungewöhnliche Schüchternheit ab und lachte. „Verspätete Gerechtigkeit! Weiss Gott, da hat er recht! Wenn man das Gerechtigkeit nennen kann, so kommt sie allerdings ein wenig spät; aber ich bin im Zweifel, ob seine Handlung überhaupt diese Bezeichnung verdient. Nun, wer weiss auch, ob die Frau noch am Leben ist! Meiner Ansicht nach ist sie längst tot, sonst hätte sie sicher in all den Jahren einmal von sich hören lassen.“ Damit begab er sich in das eichengetäfelte Speisezimmer und stärkte sich zu der Fahrt nach London durch des Dekans alten Portwein und ein ausgezeichnetes Diner, dem er volle Gerechtigkeit widerfahren liess.
Während der Notar sich an Speise und Trank gütlich that, hatte sich abermals ein Gast eingefunden, der nach dem Dekan fragte und wunderbarerweise — ohne jede Anmeldung — in das Krankenzimmer hineingeführt wurde. Es war ein grosser, schlanker, alter Mann mit kahlem Haupte, freundlichem, gutem Gesichte und etwas nach vorn gebeugter Haltung.
„Sind Sie es, Drysdale?“ begrüsste ihn der Dekan. „Sie kommen wohl, um Abschied von mir zu nehmen?“
Der Rektor der Universität nahm seines alten Freundes Hände und schaute traurig in das Gesicht des Sterbenden. „Hoffentlich nicht, Musgrave,“ sagte er. „Hoffentlich werde ich Sie noch recht oft besuchen können. Ich glaube nicht daran, dass Sie vor mir aus dem Leben gehen wollen — Sie mit Ihrer unverwüstlichen Gesundheit, mit Ihrem Riesenkörper! Sie sehen mir nicht danach aus, als ob — als ob Ihr Zustand sehr bedenklich sei.“
„Sie wollen mir etwas einreden, Drysdale,“ erwiderte der andre. „Ich habe nicht mehr die Kraft, Ihnen zu widersprechen, aber in vierundzwanzig Stunden wird mein Tod Sie überführt haben, dass ich heute Ihnen gegenüber im Rechte war. Setzen Sie sich, Drysdale. Sie sind der letzte Mensch, mit dem ich in dieser Welt spreche, und ich vermute, auch mit Ihnen werde ich nicht lange zu sprechen im stande sein.“ Er hielt inne. Nach einer kurzen Pause begann er wieder: „Erinnern Sie sich meiner Tochter Laura?“
„O gewiss, gewiss. Ich erinnere mich des armen Kindes sehr gut. Es freut mich, Musgrave, dass auch Sie sich ihrer erinnern. Wie sehr, sehr bedauerlich ist es, dass sie nicht jetzt bei Ihnen sein kann!“
„Ich habe ein leidliches Gedächtnis. Auch glaube ich nicht, dass ein Mensch im stande ist, die Existenz seiner Kinder zu vergessen, so triftigen Grund er auch oft haben mag, sich diese Möglichkeit zu ersehnen. Ihren Wunsch, Laura jetzt bei mir zu haben, teile ich indes nicht. Da sie das Herz hatte, zwölf Jahre vergehen zu lassen, ohne ihrem Vater je eine Zeile zu schreiben und ihn wegen der Schande, die sie über ihn und über sich selber gebracht hat, um Verzeihung zu bitten, so glaube ich kaum, dass mir ein Wiedersehen mit ihr besonders erfreulich sein könnte. Trotzdem habe ich soeben ein Testament zu ihren Gunsten verfasst. Ich setze sie zur Erbin meines ganzen Hab und Gutes ein und entziehe ihr nur die Summe von zehntausend Pfund Sterling, die ich für meinen Neffen Frederick bestimmt habe.“
„Sie scherzen!“ rief Doktor Drysdale. „Nein, nein, Musgrave, das haben Sie nicht gethan! Sie wollen Fred nichts weiter als zehntausend Pfund Sterling lassen! Hm, hm! Aber haben Sie denn — verzeihen Sie die indiskrete Frage — haben Sie eine Ahnung, wo Ihre Tochter sich gegenwärtig aufhält?“
„Nicht die entfernteste. Wie ich Ihnen soeben sagte, hat sie seit dem Tage, da sie mit ihrem Schurken von Musiklehrer auf und davon lief, nie wieder etwas von sich hören lassen. In dem Briefe, den sie mir hinterliess, teilte sie mir mit, dass sie beide nach Neuseeland zu gehen und dort ihr Glück zu versuchen beabsichtigten. Ob sie diesen Plan ausgeführt haben, ob nicht — ich weiss es nicht. Ob sie lebt, ob sie tot ist — ich weiss es ebensowenig. Ist das letztere der Fall, so geht mein Vermögen an den nächsten noch lebenden Blutsverwandten über. Besser konnte ich — meiner Ansicht nach — nicht darüber verfügen,“ setzte der Dekan ein wenig zweifelhaft hinzu, als wünschte er jetzt die Bestätigung zu hören, dass seine Bestimmung eine sehr weise und richtige gewesen sei.
„Hm, hm!“ sagte sein Freund nachdenklich. „Aber halten Sie es nicht für richtig, dass wir Fred telegraphisch hierher berufen, Musgrave?“
„Wozu? Ich habe keine Sehnsucht nach ihm und er hat sicher ebensowenig Sehnsucht nach mir. Er ist ein Trotzkopf, der sich meinen Wünschen widersetzt und eine Karriere erwählt hat, die eines anständigen Menschen durchaus unwürdig ist.“
„Sind Sie nicht ein wenig zu hart, Musgrave? Es war Ihr Wunsch, dass er Jurist werden sollte, nicht wahr?“
„Ja. Ich war dem Jungen gut und wollte für seine Zukunft sorgen. Ich führte ihn an eine Quelle, aber er weigerte sich, daraus zu trinken. Anstatt einen ehrenhaften, menschenwürdigen Beruf zu erwählen, vergeudet er seine Zeit damit, Theaterstücke zu schreiben. Komödien! O pfui!“
„O, auch darin kann man Grosses erreichen,“ bemerkte der Rektor sanft.
„Nicht, dass ich wüsste.“
Drysdale lächelte. „Haben Sie nie von Shakespeare gehört?“
„O, wenn Sie mir mit einer solchen reductio ad absurdum kommen, sind wir mit unsrer Unterhaltung bald zu Ende. Auch habe ich weder Lust noch Kraft, mit Ihnen zu streiten. Ich weiss, dass ich meinem Neffen gegenüber meine Pflicht gethan habe und sogar noch mehr als meine Pflicht. Trotz seines Ungehorsams habe ich ihm zehntausend Pfund Sterling vermacht, mit denen er nach Belieben schalten kann. Und nach der Art und Weise, in der ich mein Testament abgefasst habe, ist der Fall nicht ausgeschlossen, dass Fred einmal Erbe meines ganzen Vermögens werden wird. Unter diesen Umständen hat er keinen Grund, sich darüber zu beklagen, dass ich mich geweigert habe, seine litterarischen Produkte zu lesen oder mir von ihm davon erzählen zu lassen.“
„Ich glaube nicht, dass er Ihnen, wenn Sie ihn jetzt kommen liessen, davon sprechen würde,“ wandte der Friedensstifter ein. Es that dem Rektor von Herzen leid, dass der arme Musgrave, ohne von dem Neffen, den er an Sohnesstatt angenommen und in dem Glauben, sein dereinstiger Erbe zu sein, erzogen hatte, Abschied genommen zu haben, aus dem Leben scheiden sollte. Zwar war in letzter Zeit eine offenbare Entfremdung, die fast einem Bruche gleich kam und deren Folgen Fred durch die Testamentsabänderung zu spüren bekommen sollte, zwischen Oheim und Neffen eingetreten, aber trotzdem blieb es die Pflicht des jungen Mannes, an das Sterbebett seines Pflegevaters zu eilen, und der Rektor betrachtete es als eine Art Sünde, wenn er ihn nicht herbeirief.
Der Dekan schien anderer Ansicht zu sein.
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