Eine wettbewerbliche Bedeutung kann eine Zeichenfolge aber dann erlangen, wenn ihr von den relevanten Personen eine Bedeutung zugeschrieben wird.193 Dies erfolgt durch Transformation oder Kombination.194 Erstere beschreibt die Zuschreibung einer Bedeutung zu der Zeichenfolge in einer konkreten Situation durch mindestens eine Person. Letztere meint dies speziell durch die Zusammenfügung von verschiedenen Zeichenfolgen. Dies kann durch Wettbewerber erfolgen, ebenso wie der jeweiligen Marktgegenseite. Diese Bedeutung kann sehr stark variieren und jeweils für verschiedene Personen unterschiedliche Bedeutungen haben, ist also relativ.195 Diese Relativität findet sich in einer kartellrechtlichen Betrachtung wieder, wenn die konkrete wettbewerbliche Bedeutung einer Information untersucht wird. Nicht die Masse an Daten und damit in Verbindung gebrachten Informationen ist kartellrechtlich unmittelbar bedeutsam, sondern zunächst vor allem ihre wettbewerbliche Qualität für den jeweiligen Betrachter im Wettbewerb.196 Die Qualität von Informationen kann für Innovationen bedeutsam sein, wenn auf ihrer Grundlage Unternehmen neue oder bessere Angebote oder Prozesse schaffen und bewerben können.197 Erst wenn diese qualitative Aussage über den Informationsgehalt von Daten angestellt werden kann, wäre eine quantitative Aussage über den Bestand der hiermit qualifizierten Daten möglich.
In diesem Zusammenhang steht die Bewertung von Netzwerkeffekten und Größenvorteilen bei digitalen Plattformen, wie sie insbesondere auch in § 18 Abs. 3a Nr. 1 und 3 GWB im deutschen Kartellrecht ausdrücklich als mögliche Marktmachtkriterien erwähnt werden. Eine eigenständige Bedeutung der Größe eines Datensatzes für die Marktmachtbewertung ergibt sich nicht aus § 18 Abs. 3a Nr. 4 GWB, der seinem Wortlaut nach als Marktmachtkriterium für Plattformen „sein Zugang zu wettbewerbsrelevanten Daten“ vorsieht. Zum einen ergibt sich bereits aus dem Wortlaut, dass es weniger um die Größe und das Potenzial zur Ausschaltung des Wettbewerbs durch die Vorenthaltung geht, als die vorgelagerte Zugriffsmöglichkeit.198 Dies ergibt sich aus der Gesetzesbegründung zur 9. GWB-Novelle, mit der diese Vorschrift eingeführt wurde und die vor allem auf eine Erfassung marktmachtrelevanter Vorsprünge durch diesen Zugang abzielt.199 Über das im Wortlaut enthaltende Kriterium der Wettbewerbsrelevanz wird auch bei dieser Vorschrift deutlich, dass es auf einen besonderen wettbewerblichen Bezug ankommt. Im Kontext muss dieses Kriterium deshalb so verstanden werden, dass nicht die final-absolute Inhaberschaft über einen bestimmbaren Datenschatz zur Voraussetzung einer Marktstellung gehört, sondern es kommt auf die besonderen Bezugsquellen an, die das Unternehmen sich unabhängig vom Wettbewerb aufbauen konnte.
Als dritter Begriff tritt an dieser Stelle das Wissen auf, was sich als subjektivpersönlicher Bestand von organisierten Informationen zu einem bestimmten Bereich beschreiben lässt.200 Es ist Gegenstand und Ergebnis des noch zu erläuternden Wettbewerbsprozesses als Entdeckungsverfahren, in dem Unternehmen nach neuen Informationen suchen, um diese in ihren Erfahrungsschatz zu integrieren und darauf aufbauend für sie wettbewerblich günstig wirkende Entscheidungen treffen zu können.201 Dieses kann dem Unternehmen einen Vorsprung in Form eines Wissensspielraums verschaffen. Für Innovation hat Wissen deshalb eine besondere Bedeutung, weil es sich als Erfahrungsschatz darstellen kann und damit neue Innovationen ermöglichen kann.202 Wissen kann aufgrund seiner reinen Subjektivität aber nicht selbst Gegenstand eines Marktes und des Wettbewerbs sein, sondern ist lediglich ein mögliches unternehmensinternes Ergebnis.
5. Multi-homing und Wechselbewegungen
Viele Nutzer beschränken sich nicht auf eine einzelne Plattform für eine bestimmte Nachfrage, sondern verwenden parallel oder nacheinander unterschiedliche Plattformen. Spiegelbildlich akzeptieren viele Anbieter die Nutzung unterschiedlicher Plattformen. So werden von vielen Händlern unterschiedliche Zahlungsmittel und Kreditkarten für die Abwicklung von Zahlungsvorgängen angenommen.203 Zwischen den einzelnen beteiligten Anbietern und Nachfragern können also Wechselbewegungen bestehen. Multi-homing beschreibt dabei den tatsächlichen Umstand, dass Nutzer mehrere Plattformen in Anspruch nehmen.204
Das Bundeskartellamt ist in mehreren bisherigen Freigabeentscheidungen zu Fusionen davon ausgegangen, dass Multi-homing die Gefahr eines Tipping verringern könne.205 Auch die EU-Kommission nimmt in ihrer Freigabeentscheidung Microsoft/LinkedIn an, dass Multi-homing sich abmildernd auf Netzwerkeffekte auswirken kann.206 Damit handelt es sich zunächst um einen Umstand, dessen Feststellung bei der Bewertung der marktbeherrschenden Stellung hinzugezogen werden kann. § 18 Abs. 3a Nr. 2 GWB setzt dies um und sieht als weiteres mit der 9. GWB-Novelle eingeführtes Kriterium zur Bewertung der Marktstellung bei Plattform-Sachverhalten die „parallele Nutzung mehrerer Dienste und den Wechselaufwand für die Nutzer“ vor.207 Dieser Umstand lässt sich als Einwand gegenüber der Annahme einer Marktstellung annehmen. Trotz stark wirkender Netzwerkeffekt und sogar weiterer monopolistischer Tendenzen könnte gleichwohl die Marktmachtstellung abgeschwächt werden, wenn die Nutzer einfache Möglichkeiten zum Wechsel haben.
Die Leistungen vieler Plattformen werden häufig an eine Kundengruppe ohne ein unmittelbares monetäres Entgelt angeboten. Rochet / Tirole beschreiben den Unterschied von mehrseitigen Wirtschaftszweigen zu einseitigen damit, dass sich der Anbieter nicht allein für einen Preis entscheiden muss, sondern stattdessen für eine nicht-neutrale Preisstruktur, mittels derer er die Nutzergruppen an Bord holen kann.208 Aufgrund der indirekten Netzwerkeffekte wirken sich Preissetzungen indirekt auf die andere mit der Plattform verbundene Nutzergruppe aus.209 Dies berücksichtigen Plattformen, indem sie die teilnehmenden Nutzergruppen zur Erzielung von Umsätzen häufig preislich unterschiedlich behandeln.210 So wird häufig eine Nutzergruppe mit einem Entgelt belegt, während die andere verbundene Nutzergruppe kein unmittelbares Entgelt leistet und dadurch preislich in Form eines „Nullrabatts“211 begünstigt wird.212 Der Preis gegenüber einer Nutzergruppe liegt dabei häufig oberhalb des sogenannten Monopolpreises, während der Preis für die andere Nutzergruppe dagegen unterhalb des Monopolpreises – häufig auf null – angesetzt wird. Monopolpreis ist dabei der Preis, den ein marktbeherrschendes Unternehmen ohne Wettbewerber aufgrund dieser Marktstellung verlangen kann. Durch die niedrige Bepreisung einer Nutzergruppe bei einem gleichzeitig hohen Preis für die korrespondierende Nutzergruppe kann die Plattform die Masse der Transaktionen, also der erfolgten Vermittlungen, beeinflussen und dadurch Nutzergruppen besser zusammenbringen und zwischen ihnen vermitteln.213 Steigt nämlich aufgrund des niedrigen oder nicht geforderten monetären Entgelts auf der einen Seite die Anzahl der Teilnehmer dieser Nutzergruppe, steigt gleichsam der Wert für die andere Nutzergruppe, weshalb sie ein höheres Entgelt zu zahlen bereit sind. Damit kann gegenüber der Nutzergruppe mit dem Nullrabatt der Preiswettbewerb in seiner Bedeutung zugunsten anderer qualitativer wettbewerblicher Parameter zurücktreten.214 Durch das beschriebene Preissetzungsvorgehen können die Transaktionskosten für die Vermittlung zwischen den Individuen der Nutzergruppen verringert und dadurch wiederum das Transaktionsvolumen, also die Gesamtanzahl der Transaktionen, erhöht werden.215
Innovation hat also in der Praxis und Wissenschaft über die Anwendung der kartellrechtlichen Vorschriften eine zunehmende Bedeutung gewonnen.216 Dagegen kann hieraus nicht der Schluss gezogen werden, die Produktinnovation sei der nunmehr allein maßgebliche Wettbewerbsparameter, wie dies Weber zunächst zusammenfasst.217 Zwar treten Preise aufgrund der besonderen ökonomischen Umstände der Internetwirtschaft auf den ersten Blick in den Hintergrund. Sie sind nicht verschwunden, sondern häufig lediglich auf eine andere Vertriebsstufe verlagert oder verteilt. Dieses Verlagern oder Verteilen kann ein Geschäftsmodell innovativ erscheinen lassen, aber auch qualitätsbezogene Aspekte ausdrücken, die sich auf die Nutzerentscheidung auswirken. So kann es eine Innovation darstellen, dass Nutzer einer bestimmten Gruppe und einem abstrahierbaren gemeinsamen Interesse mit einer anderen Nutzergruppe und deren Interessen vermittelt werden. Dies wird sich wettbewerblich nur dann auswirken, wenn die jeweiligen Nutzer das Angebot wertschätzen und deshalb annehmen.218 Dies erfolgt nicht allein aufgrund der Neuheit, sondern schließlich auch aufgrund von qualitativen Interessen.
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