Vielen Menschen, denen ich in den fünf bereisten Ländern begegnete, verdanke ich Befruchtungen vielfältiger Art. Mein Stotter-Spanisch schenkte mir herrliche Lachattacken auf beiden Seiten, während mich die Lebensrealität der Menschen im andinen Hochland mitunter vor Ehrfurcht verstummen ließ. Danke, dass ihr mir eure Welt gezeigt habt, wie sie wirklich ist! ¡Muchas gracias a todos!
Als Buchautor über eine Reise berichten zu dürfen, ist ein Glücksfall. Denn man darf sie noch einmal unternehmen. Diesmal mit dem Auftrag, heimzukehren mit Worten, die Bilder schaffen. Das entschleunigt und intensiviert das Erlebte, hilft, das zunächst Unverständliche zu entschlüsseln. Ich hatte zudem das rare Glück, mit Christoph Schottes vom Verlag Die Werkstatt einen Lektor zu haben, der mit gefühlvoller Hand sein Skalpell an das Manuskript setzte und es von manchen Unwuchten und Fettgeweben befreite.
Feurige Herzenswärme geht an Claudia, die mir so viel freiheitsgespeiste Liebe mitgab, dass ich fast nach Ushuaia geflogen wäre. Und doch war der schönste Moment die Rückkehr in unseren gemeinsamen Hafen.
Göttingen, 10. August 2015
Hardy Grüne
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Das Finisher-Trikot
ECUADOR
ATEMLOS DURCH DIE STADT
1. ETAPPE. QUITO – MITAD DEL MUNDO – QUITO, 54 KILOMETER, 566 HÖHENMETER
Keine Viertelstunde nach dem Startschuss hocke ich am Straßenrand und zerre den Schlauch aus dem Mantel. Nach zehn Kilometern die erste Reifenpanne – das kann ja heiter werden. Fünf Minuten später ist mir endgültig nicht mehr zum Lachen. Kaum habe ich wieder zur Gruppe aufgeschlossen, eiert das Vorderrad schon wieder. Erneut platt. Fluchend halte ich an, begleitet von hämischen Kommentaren und einer hektischen Tourleitung, die sich um unseren Konvoi von 40 Radlern sorgt, der noch immer im turbulenten Stadtgebiet von Quito kurbelt. Und den ich mit meinem zweiten Platten binnen nicht einmal 15 Kilometern schon wieder aufhalte. Peinlich.
Diesmal leisten Tourorganisator Rob und unser peruanischer Mechaniker Lucho Pannendienst, und diesmal nehme ich mir die Zeit, den Schlauch vernünftig einzusetzen und ihn nicht wieder in der Felge einzuklemmen. Dann kann es endlich weitergehen auf dem Weg zum „Ende der Welt“. 11.000 Kilometer vom Äquator nahe der ecuadorianischen Hauptstadt Quito bis nach Ushuaia auf Feuerland in Patagonien. Da, wo die Welt zu Ende ist. 110.000 Höhenmeter über alle möglichen Andenpässe. Über das Hochland des Altiplanos, durch die Hitze Nordargentiniens, den Wind von Patagonien. Viereinhalb Monate durchschnittlich 100 Kilometer am Tag im Fahrradsattel. The Andes Trail, eines der längsten und härtesten Etappenradrennen der Welt. Ein Ausflug jenseits der Komfortzone. Eine Reise, die verrückt genug ist, um als Abenteuer durchzugehen.
Für mich allemal. Denn eigentlich bin ich gemütlicher Schönwetterradler. Komme selten über 6.000 Jahreskilometer. Bei Temperaturen unter 15 Grad oder Regen bleibt mein Rennrad schon mal im Stall, und von sklavisch einzuhaltenden Trainingsplänen halte ich nicht viel. Radfahren soll Freude machen, nicht quälen. Freude? Ist auf The Andes Trail nicht immer garantiert. Jeden Tag geht es weiter in Richtung Süden. Egal, ob es stürmt oder schneit. Egal, ob die Lust da ist oder die Psyche zickt. Das kann schon mal in Quälerei enden. Dennoch bin ich, dank der Tour d’Afrique, infiziert. Seit ich 2011 in Kapstadt über die Ziellinie gerollt bin, weiß ich:
Nichts ist für eine Kontinentdurchquerung besser geeignet als das Fahrrad. Zu Fuß ist man zu langsam, mit dem Auto zu isoliert vom alltäglichen Leben. Auf dem Fahrrad stimmt alles, ist alles direkt und unmittelbar spürbar. Das Wetter, die Gerüche, die Geräusche, die Menschen, die Tiere, der Verkehr. Und man selbst. Verstecken geht nicht. Flucht in Tagträume auch nicht. Wer sich dem nicht stellt, der kommt nicht vorwärts. Eine 11.000-Kilometer-Tour auf dem Rad ist auch eine Reise durchs eigene Ich und an die Grenzen der Wahrnehmung.
Nach den beiden Reifenpannen rollt es besser. Bald haben wir die Stadtgrenze von Quito erreicht. Es geht hoch und runter in einer Stadt, die an eine Badewanne erinnert. Im flachen Boden das Zentrum und die Altstadt, an den Rändern die Hütten der Armen. Wie so viele Großstädte verbindet Quito Lebenswelten miteinander. Oft ohne Übergang. Abrupt, parallel. Während wir ins Abenteuer starten, schenkt uns Quito kleine Einblicke in diese Facetten. Wie den blinden Bettler, der sich in den Rotphasen einer Verkehrsampel an den wartenden Autos vorbeitastet und ein paar Cents einsammelt. Von den Gewinnern der ecuadorianischen Gesellschaft, die gelangweilt aus ihren protzigen SUVs blicken und ihm wortlos Almosen in die Hand drücken. Die meisten jedoch glotzen einfach an ihm vorbei. Schaltet die Ampel auf Grün, muss er schnell beiseitespringen.
Beklemmend.
Wie die dünne Luft. Quito liegt 2.800 Meter über dem Meeresspiegel. Was das heißt, erfuhr ich schon am Tag meiner Ankunft. Mit prallem Rucksack und sperrigem Fahrradkarton kam ich nach 25 Flugstunden an. Vertraute meine kümmerlichen Spanischkenntnisse einem aufgeschlossenen Taxifahrer an und bekam im Gegenzug einen ersten Eindruck von der Fülle Südamerikas. Garküchen an den Straßenrändern. Straßenverkehr ohne erkennbare Regeln. Ochsenkarren neben protzigen Limousinen. Verschiedene Lebenswelten, scharf voneinander getrennt ineinander übergehend.
Mit Afrika fing alles an: Der Autor nach dem Zieleinlauf in Kapstadt 2011
Meine Gastfamilie lebte in der modernen Neustadt. Dort sieht es aus wie in jeder europäischen Großstadt. Betonburgen, dichter Straßenverkehr, Shops, die rund um die Uhr geöffnet haben. Auf dem Weg hinauf in den elften Stock blieb mir zum ersten Mal der Atem weg. Buchstäblich. Was hatte ich nicht alles gelesen und gehört über die Herausforderung der Höhenakklimatisierung. Blanke Theorie. Denn darauf vorbereiten kann man sich nicht. Schlagartig überfiel es mich, fühlte ich mich seltsam getrennt von der Außenwelt. Wie unter einer Glasglocke. Alles ging unendlich langsamer und kostete trotzdem ein Vielfaches an Kraft. Selbst die Wahrnehmung war gefiltert. Wie im Kino beobachtete ich meine Slow-Motion-Bewegungen. Skurril. Beängstigend. Todmüde fiel ich aufs Bett.
Autofreier Sonntag in Quito
Und wachte nach zehn Stunden wieder auf. sonntagmorgen. Ein guter Zeitpunkt zum Ankommen in einer fremden Welt. Denn Sonntagmorgens hält Quito für einen kurzen Moment den Atem an. Ideal, um Tuchfühlung zum Abenteuer aufzunehmen. Das ging los mit dem Frühstück, bei dem ich in vier erwartungsfroh grinsende Augenpaare meiner Gastfamilie blickte und aus den dazugehörigen Mündern ausschließlich spanische Worte kamen. In einem Tempo, dem ich selbst in ausgeschlafenem Zustand und ohne lähmende Höhenluft nicht hätte folgen können. Grinsend stotterte ich spanische Sätze. Hoffte, dass sich ihre Aussage irgendwie mit dem deckte, was ich sagen wollte. Ließ mir erzählen, dass eine von Quitos Hauptverkehrsachsen jeden Sonntagmorgen für den Verkehr gesperrt ist. Um Skateboardern und Radfahrern die Gelegenheit zu geben, ungestört ihrem Hobby nachzugehen. Das klang nach Vergnügen!
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