Er atmete auf bei dem Gedanken, dem „Weisen Lamm“, dem Kampf ums tägliche Brot darinnen, dem Haschespiel mit der Kellnerin, ja selbst der Gesellschaft des finsteren Freundes entronnen zu sein. Mochte der den Nachmittag hungernd und bierbegehrend im Tal verkümmern, er, Martin Siebenpfeiffer, wanderte voll feuriger Begeisterung zur Höhe.
Einige hundert Schritte in gipfelstürmender Hast! Dann kamen, je steiler der Hang wurde, der kurze Atem und der Schweiss in der stechenden Mittagsglut. Während er immer langsamer, immer bedächtiger Fuss vor Fuss setzend weiterklomm, stieg trotz der prächtigen Bergwelt ringum, der grünen Wiesen, der weissen Firndächer unter dem blauen Himmel und des verschwenderisch alles erwärmenden Sonnengolds eine beklemmende Schwermut in ihm empor.
War er nicht, wie er da mühsam zu der endlich errungenen Hütte hinaufschlich, ein General ohne Heer, ein Sieger ohne jubelndes Volk? Wo blieben die Vereinskameraden am morgigen Jubeltag? Sie liessen ihn allein, all die Menschen, an die er, der alternde Junggeselle, sich in Ermangelung eines eigenen Heims so gerne mit naiver Zutraulichkeit anschloss, sie alle, ausser Lori Vogel, nahmen gar keinen Anteil an seinem Stolz und seiner Freude über das doch zu ihrem Besten von ihm gestiftete Werk.
Niemand brauchte ihn. Niemand dankte ihm. Am wenigsten die Bergsteiger, die von morgen ab lärmend, als sei es die selbstverständlichste Sache von der Welt, die Törlihütte füllten. Wozu hatte er nun mit all dem Feuereifer die drei Jahre gearbeitet? Immer für Fremde, denen er fremd blieb. Wo war das Eigene in seinem Dasein, das Persönliche, von dem er sagen konnte: „Das hab’ ich mir errungen! Das gehört mir, und niemand darf es mir nehmen!“
Und wenn es auch nur eine Erinnerung war – besser als dies Sehnen und Warten auf das Grosse, Berauschende, das da kommen soll und nie kommt. Man zweifelt und dürstet sein Leben lang, und die andern lachen und trinken und wischen sich behaglich den Mund.
Martin Siebenpfeiffer seufzte tief auf vor Bitternis und schämte sich des nicht. Auch Hamlet war ja fett und kurz von Atem, wenn er auch den Purpur trug und ein Prinz war. Innerlich glich sich das aus. Da war jener vom Lauf seiner Tage ebensowenig befriedigt wie sein Erbe im Geiste, Dr. Martin Siebenpfeiffer. Beiden schien in ihrer Bitternis etwas faul zu sein in der Törlihütte und im Staate Dänemark.
Am Wege sass ein halbwüchsiges Mädchen auf einer umgedrehten Türe und trocknete sich mit der Schürze die Schweissperlen aus dem hübschen Gesicht. Siebenpfeiffer blieb stehen. „Was schaffst denn da, Mirzl?“ forschte er freundlich.
„Die Tür zum Damenzimmer soll i zur Hütten aufi tragen, gnä’ Herr!“
Richtig! Die Türe war gestern im Tal vergessen worden! Nachdenklich setzte der einsame Wanderer seinen Weg fort. Das Damenzimmer war ihm immer ein Dorn im Auge gewesen, weil es unnötig soviel Platz wegnahm. Aber wer das Geld hat, hat die Macht, und Lori Vogels, der blonden Hüttenerbauerin, Wunsch, ein eigenes Gelass in ihrem neuen Reiche zu besitzen, war ja begreiflich und ihm Befehl.
Nun war er schon aus dem Bereich des Knieholzes und der Alpenrosen heraus. Tief unter ihm schimmerten die Dächlein von Sankt Lukas in der Öd, und die Ungeduld beflügelte seine Schritte. Er wusste: wenn er um jenen Bergvorsprung bog, dann lag das bisher einzige, dauernde Wahrzeichen seines Erdenwallens, dann lag die Törlihütte zum Greifen nah vor seinen Augen.
Er hatte beinahe Angst, der bescheidene Bau könne gleich einem Märchenschloss aus Tausenundeiner Nacht urplötzlich wieder in den Boden versunken sein! Aber nein! Er blieb stehen, und ein freundliches Lächeln umspielte sein erhitztes Gesicht. Da grüsste blitzblank das niedere, rotbraun gestrichene Schutzhaus über das mit grossen Markierstangen geschmückte Trümmerfeld herüber, hart hinter ihm kräuselte der spielende Bergwind die kornblumenfarbenen Wellen des Törlisees, und darüber stieg der weisse, wildzerrissene Wall des Törligletschers bis zur Höhe des Firnpasses hinauf, über dem der Himmel blaute. Links davon stand, dem Auge jetzt weit näher gerückt, aber noch weit schroffer und trotziger, als wenn man es vom Tale aus sah, die unterworfene Königin dieser kleinen Welt, das böse „Wilde Dirndl“.
Von drüben her klangen helle Juchzer. Die Monika und die Veronika, die sich offenbar in ihrer Einsamkeit sträflich langweilten, hatten mit ihren Luchsaugen bereits den Besucher erspäht. Aber es dauerte noch eine gute Stunde, bis Martin Siebenpfeiffer keuchend und mit zitternden Knien den letzten steilen Schotterpfad zur Hütte emporklomm, ganz erschöpft auf einen Stuhl, den die flinken Dirnen schon herausgeschleppt hatten, niederfiel, sich von der Monika in eine Schlafdecke wickeln und von der Veronika ein Glas Milch einflössen liess. Dabei war des Geschwätzes kein Ende. Alles hätten sich die beiden, die Jungfer Köchin und die Kellnerin, eher träumen lassen, als dass der gnä’ Herr heute schon heraufkäme – den weiten Weg bei der Hitze, und schwitzen tät’ er schon rechtschaffen! Und andere Bergsteiger seien natürlich noch nicht gekommen, weil die Hütte ja erst von heute ab dem Verkehr übergeben werde – aber fix und fertig sei alles, bis auf die Tür zum Damenzimmer, und der gnä’ Herr möchte nur selber nachschauen – ja, und was sie noch fragen wollten, die Trinkgelder dürften sie doch miteinander teilen, weil die Monika doch aus der Kuchel nicht herauskäme und der weltgewandten, schwarzäugigen Veronika, die schon einmal in einem Hotel in Meran Stubenmädel gewesen, das Einkassieren überlassen müsse?
„Nun seid mal endlich still!“ unterbrach Siebenpfeiffer den Wortschwall. „Natürlich tut ihr die Trinkgelder in eine Blechbüchse und teilt sie am Ende der Saison. Aber jetzt schaut, dass ihr weiterkommt!“
Daraufhin setzten die beiden hinter dem Hause ihren Drang nach Konversation mit dem Echo fort, und Martin Siebenpfeiffer überliess sich jenem träumerischen, müden Behagen, das den Bergsteiger am Ziel der Wanderung überkommt.
Nun war er ja am Ziel. Das Haus war geschaffen. Sein Werk! Mit einer gewissen Rührung sah er das Gebäude an, das äusserlich klein und dürftig, wie er selber sich vor dem trotzigen „Wilden Dirndl“ beugte und in Wahrheit doch dessen Wächter und Gebieter war. Und mit diesem Bewusstsein kam über ihn der Drang des Regierens und Kommandierens.
Er holte ein Stück Kreide aus der Tasche, beorderte die Monika und die Veronika als Stab hinter sich und wanderte als Geist der Ordnung durch das Haus. An die Türe des Speisezimmers malte er ein grosses: „Eintritt den Führern streng verboten!“, an ein kleineres, aber notwendiges Gemach nebenan desgleichen, an den Eingang zur Küche kam eine Warnung: „Unbefugter Aufenthalt verboten!“ – an den Hausflur in grossen Lettern: „Es ist verboten, Bergstöcke, Pickel und Mäntel ins Gastzimmer zu nehmen.“ Dann entstand oben an dem Türbalken des Damenzimmerchens ein: „Herren ist der Eintritt strengstens verboten!“, über dem Eingang des allgemeinen Schlafraumes ein: „Es ist verboten, sich mit Stiefeln auf die Pritsche zu legen!“ und an den zwei mit Betten versehenen Einzelzimmern ein: „Es ist jedem Bergsteiger verboten, mehr als ein Bett zu belegen!“
Allerdings standen diese Warnungen auch in der gedruckten Hausordnung, die unten im Speiseraum hing, und waren ohnedies allgemein bekannt. Aber doppelt genäht hält besser.
Nun sah er noch nach, dass das Aufschneidemesser mit der grossen Glocke, deren Läuten im Lauf des Gesprächs die unverbesserlichen Bergrenommisten schrecken sollte, schräg über dem Speisetisch hing, dass Hüttenbuch und Fremdenbuch in Ordnung waren und die Handapotheke samt Gletscherseil und Laterne sich an ihrem Platz befand – dann war sein Werk getan.
Es war schwül zwischen den durchsonnten Bretterwänden, die den beizenden Dunst von frischem Lack und kaum getrockneter Ölfarbe ausstrahlten. Martin Siebenpfeiffer trocknete sich die Stirne – denn das Ankreiden all der Verbote war keine kleine Arbeit gewesen – und ging über die krachende Treppe hinab ins Freie. Draussen war immer noch die stille feierliche Mittagsglut der Alpenwelt. Aber von den Firnhängen des „Wilden Dirndls“ strömte zuweilen ein erfrischender Windhauch herab und liess Schaumspritzer auf dem kleinen, eirunden Törlisee hinfliegen, dem Siebenpfeiffer langsam zuschritt. Ringsum war eine Wildnis von Steingeröll, von Felsbrocken und halbzerpulvertem Schotter, die Endmoräne des in kaum fünf Minuten Entfernung zum Bergjoch aufsteigenden Gletscherwalles, und mitten in ihr lag, sanft und friedlich wie ein zur Erde niedergefallenes Stück Himmelsblau, in dem die weissen Lämmerwölkchen oben sich freundlich spiegelten, die leise zitternde Wasserfläche. In würzigem Hauche blühten bunte Sommerblumen an ihren Ufern aus den Fugen des Gesteins, kleine bunte Schmetterlinge trieben einander lustig haschend im Gaukelfluge darüber hin, silberhell plätschernd rannen von allen Seiten die Gletscherwasser und Schneebäche der sonnenüberstrahlten Firnfelder ihrem Sammelbecken, dem blauen Auge des Törlisees zu – träumerisches Behagen, lächelnde Müdigkeit war ringsumher, wenn nicht zuweilen hoch oben von dem trotzigen „Wilden Dirndl“ ein fernes Knattern und Stäuben den Niedergang einer Lawine anzeigte.
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