„Was für ein Schlafmittel habt Ihr denn in die Zichorie getan?“
„Aber, Herr Architekt!“
Die Pflegerin ging. Vohwinkel liess Kanne, Tasse und Teller unberührt. Er wartete, bis die leichten Schritte draussen auf dem Gang verhallt waren. Er lauschte in der tiefen Stille, als könnte jeden Augenblick draussen der schwere Schritt von Schutzleuten dröhnen, die kamen, um ihn zu verhaften. Er schaute, mit der fieberhaften Hast eines Mannes, dem plötzlich jede Minute kostbar ist, im Zimmer umher und suchte seinen Hut. Der breitrandige Künstlerhut war nicht zu entdecken! Den hatte die gute Schwester offenbar unbemerkt unter ihrer Schürze mit fortgenommen! Vohwinkel musste lachen: Jetzt, in der Junihitze, fiel in Berlin ein Herr ohne Hut wahrhaftig niemandem auf! Hoffentlich hatten sie nicht auch noch die Türe . . . Nein! Die Türe war offen. Der Architekt Vohwinkel schritt den ausgestorbenen Flur entlang zum Haustor. Dort steckte der Pförtner seinen bärtigen Kopf aus dem Seitenfensterchen.
„. . . Augenblick, Herr Architekt!“
„Nun machen Sie doch schon auf!“
„Ich will nur schnell dem Herrn Sanitätsrat melden, dass der Herr Architekt jetzt ausgehn! Ich weiss nicht, ob es dem Herrn Sanitätsrat recht ist!“
Christof Vohwinkel machte kehrt und ging in sein Zimmer zur ebenen Erde zurück. Stand unruhig und unschlüssig. Der Garten draussen war noch immer leer. Das Fenster lag ziemlich hoch. Herrgott — wozu war man denn Architekt — an steile Leitern und schmale Planken und Turnerkunststücke auf dem Neubau gewohnt? Er schwang sich über den Fenstersims, er fand, mit den Händen an ihm hängend, draussen in den Holzgevierten des Spalierobstes Stützpunkte für die Stiefelspitzen, er landete mit einem Plumps unten suf der weichen Erde, life schnell, quer über die Blumenbeete, durch den Garten an die Mauer, erkletterte einen Föhrenstamm bis zu deren Krönungshöhe, stand vorsichtig, mit derben Schuhsohlen, auf den eingemörtelten grünen Glasscherben und tat einen weiten Sprung hinunter auf die baumbeschattete, stille Seitenstrasse. Ein paar Leute, die da gingen, blieben starr stehen. Er winkte ihnen flüchtig mit der Hand zu: „Es ist nichts!“ und eilte den Weg entlang. An der Ecke atmete er auf. Da wollte gerade ein leeres Auto vorüber. „Halten Sie mal am nächsten Zigarrenladen!“ beorderte er und stieg ein. Und ein paar Minuten später dort, nachdem er sich ein paar teure Havannas eingesteckt hatte, im Telefonbuch blätternd, nachlässif zu dem diensteifrigen Verkäufer: „Ach — wollen Sie mir ’nen Gefallen tun — ja? Ich hör’ nämlich ’n bisschen schwer! Bitte rufen Sie doch mal die Nummer da an und fragen Sie, ob Fräulein Matteis schon draussen in der Fabrik ist!“
„Gerne, mein Herr!“ Der junge Mann verschwand und kam wieder. „Die Dame sei wahrscheinlich noch im Ausstellungsraum in der Stadt — sagt das Mädchen am Apparat!“
„Danke!“ Der Architekt Vohwinkel stieg wieder in den Wagen. „Los! Kurfüstendamm 710!“
Hinter mächtigen Glasscheiben standen da blitzblank poliert und lackiert die Musterexemplare der Automobilfabrik ehemals F. Matteis A.-G. Zwei jüngere Gents mit tadellosem Sakkoschnitt und Bügelfalte lehnten gelangweilt in diesen kundenlosen Morgenstunden an ihren Prunkwagen und wurden beim Erscheinen des schönen Mannes plötzlich stürmisch lebhaft.
„Sie interessieren sich für unsere neuesten Typen? Sehr schmeichelhaft! In welcher Art darf er sein? Ein leichter, wirklich leistungsfähiger Wagen? Mein Herr: Sie finden in ganz Berlin und in den Vereinigten Staaten nichts Besseres und dabei Billigeres als hier unseren diesjährigen Matteis-Six — Beachten Sie die schnittige Linienführung . . . Ein kleines Wunder an Zuverlässigkeit und Elegan!“
„Natürlich alle Schikanen!“ ergänzte der zweite Herr. „Hydraulische Stossdämpfer! Fünffach bereift! Vielleicht einmal eine kleine Probefahrt?“
„Mit diesem Wagen hat unser Fräulein Matteis neulich als einzige Dame punktfrei das tolle Bergrennen in . . .“
„Sagen Sie mal: könnte ich Fräulein Matteis nicht einmal selbst wegen des Wagens sprechen?“
„Leider nein, mein Herr!“
„Man sagte mir doch, sie sei augenblicklich hier!“
„Ja. Aber Fräulein Matteis befasst sich natürlich nicht persönlich mit dem Verkauf unserer Fabrikate!“ meinte der erste Gent höflich und etwas überlegen lächelnd.
Der Architekt Vohwinkel furchte die Stirne und schaute durch das Lokal.
„Ich kenne doch Fräulein Matteis! Mir würde sie schon den Gefallen tun!“ Er brach ab und horchte einen Augenblick. „Ich höre doch ganz deutlich da irgendwo ihre Stimme!“
„Fräulein Matteis telefoniert nebenan im Kontor mit ihrer Frau Mutter. Deswegen ist sie hergekommen. Ich glaube nicht, dass Fräulein Matteis zu sprechen sein wir. Sie ist heute durch irgend etwas sehr erregt!“
„Na — immerhin — wenn das Telefongespräch zu Ende ist, werde ich mein Glück versuchen! Wenn das gnädige Fräulein mich sieht — ich sage Ihnen ja — wir sind alte gute Bekannte . . .“
„Ja, Mama . . . Ich hielt es für besser, dich gleich noch von Berlin aus telefonisch vorzubereiten,“ rief in der Hörzelle des rückwärts von dem Verkaufsraum gelegenen Büros Male Matteis in das Sprachrohr, „statt dass ich dir draussen mit der unerhörten Geschichte ins Haus falle und ich erschrecke! Also jetzt habe ich dir alles erzählt. Jetzt hast du Zeit, dich zu sammeln, bis ich hinauskomme! Ich steige jetzt gleich in meinen Wagen! Wie? Ja. Ich bin überzeugt, dass er sie ermordet hat! Es bleibt gar keine andere Erklärung! Wenn du sein Gesicht gesehen hättest! . . . Nein. Leider. Verhaftet hat ihn der Staatsanwalt vorläufig nicht — nur in ein Sanatorium spediert! Wenigstens ist er da unter Aufsicht!. . . Also auf nachher. . .“
Male Matteis hängte ab, öffnete die Zellentür, machte halt. Sie konnte nicht über die Schwelle. Der Architekt Vohwinkel stand davor. Er hielt sie in dem engen Kasten gefangen. Die beiden saben sich in die Augen. Male Matteis war mehr zornig als erschreckt.
„Da hört doch alles auf. . .,“ sagte sie halblaut.
„Jetzt hab’ ich dich. . . Jetzt kommst du mir nicht von der Stelle. . .“
„Willst du mich auch umbringen, wie du meine Schwester umgebracht hast?“
„Lüge nicht!“ Der Architekt Vohwinkel beugte sich vor. Er flüsterte nur. „Du brings mich um — mit niederträchtigem Vorbedacht! Aber so leicht wirst du mit mir nicht fertig!“
„Lass mich jetzt heraus!“
„Du wirst mir jetzt Red’ und Antwort stehn!“
„Ich bin hier Herr im Haus! Ich rufe meine Leute!“
„Meinetwegen! Dann gestehe mir vor allen deinen Leuten, wo du die Elfi verborgen hältst!“
„Was?“
„. . . damit man, dank euch, mich köpft!“
„Bist du verrückt geworden?“
„Aber ich habe keine Lust, wegen euch aufs Schafott zu kommen! Ich habe keine Lust, wegen euch zeitlebens Tüten zu kleben! Ich habe keine Lust, wegen euch mir vorher ’ne Kugel vor den Kopf zu schiessen — wo ich doch unschuldig bin! Du weisst das! Du wirst mit jetzt die Möglichkeit geben, das zu beweisen! Du wirst mir sagen, wo die Elfi ist!“
„Mein Gott — im Jenseits — durch dich!“
„Wo hast du sie versteckt? Gestehe!“
„Wenn du den Unzurechnungsfähigen spielen willst, um deiner Starfe zu entgehen so probier’ dein Glück vor Gericht und vor den Ärzten! Hier, zwischen uns, unter vier Augen, hat die Komödie gar keinen Zweck! Also lass mich jetzt gefälligst vorbei . . .“
„Du bleibst! Du sagst mir jetzt, wo die Elfi ist . . .“
„Untersteh’ dich, mich anzurühren!“
„Da halt’ ich dich! . . .“
„Lasse mich los!“
„Mir ist jetzt alles gleich! Ich kämpfe um mein Leben . . .“
Читать дальше