Ihn schnappen, den Rucksack überwerfen und zur Türe hinausstürmen ist eins. Mit einem Sprint über einen knappen Kilometer erreiche ich gerade noch meine S-Bahn.
Erst jetzt finde ich Zeit, um zu überlegen: Wie sind meine Schlüssel vor das Nachttischchen geraten? Ich habe sie garantiert nicht dort hingelegt. Martin auch nicht. Einbrecher kann ich ebenfalls ausschließen.
Es gibt nur eine logische Erklärung: Sie müssen in der Nacht dorthin gewandert sein. Aus der Hosentasche. Oder aus der Jackentasche. Oder vom Telefontischchen herunter.
Und zwar weder zum ersten noch zum letzten Mal.
Ich werde mich wohl daran gewöhnen müssen, dass meine Schlüssel laufen können.
Es ist also empirisch erwiesen, dass Schlüssel sich selbstständig fortbewegen, sobald sie mir gehören. Ebenso erwiesen ist es, dass sie diese Fähigkeit nicht besitzen, solange es Martins Schlüssel sind. Daraus ergibt sich eine Folgefrage: Wie verhalten sich die Schlüssel einer dritten Person, die diese uns beiden gemeinsam anvertraut hat?
In der Theorie lässt sich diese Frage nicht klären. In der Praxis wollen wir sie eigentlich nicht klären müssen. Und tun es doch.
Anlass ist die Hochzeit meiner Cousine im Allgäu. Meine Schulfreundin Heike wohnt in der Nähe. Was liegt da näher, als neben der Hochzeit noch Heike zu besuchen, und gleich bei ihr zu übernachten?
Heike sagt zu, obwohl sie an diesem Wochenende unterwegs sein wird. Wir verbringen einen netten Abend bei ihr; am Samstag bricht sie in aller Frühe mit ihrer Gemeinde auf in Richtung Berlin. Zurückkommen wird sie erst knapp 24 Stunden später.
Martin und ich frühstücken gemütlich, dann brechen wir auf zur Trauung meiner Cousine. Natürlich schließen wir Wohnungs- und Haustüre hinter uns ab. Und verschwenden während der folgenden Stunden keinen Gedanken an Heikes Schlüssel. Wozu auch? Wir feiern Hochzeit! Ein festlicher Gottesdienst, das Wiedersehen mit vielen Verwandten, eine fröhliche Feier bis nach Mitternacht – wer denkt da an Hausschlüssel?
Wir jedenfalls denken erst wieder daran, als wir aufbrechen wollen.
„Hast du die Schlüssel von Heikes Wohnung?“ Martins arglose Frage hat gewaltige Folgen. Denn ich habe die Schlüssel nicht. Nicht in der Handtasche, nicht in der Manteltasche. Hosentaschen kommen nicht in Frage, mein Kleid hat keine.
In Martins Hosen- und Jackentaschen befinden sich die Schlüssel auch nicht. Eine Handtasche hat er nicht. Im Auto? Auf und unter den Sitzen, unter den Fußmatten, auf der Hutablage, in den Seitenfächern, auf der Mittelkonsole und im Handschuhfach fördern wir so manches zutage, aber keine Schlüssel.
Wer hat Heikes Schlüsselbund eigentlich zuletzt in der Hand gehabt? Sowohl Martin als auch ich sind uns sicher, dass wir die Haustür abgeschlossen haben. Aber weder er noch ich können uns daran erinnern, wer die Schlüssel dann an sich genommen hat. Keine Chance, diese Überlegungen führen uns nicht weiter.
Also alles noch einmal von vorne. Alle in Frage kommenden Hand-, Hosen- und Jackentaschen komplett ausleeren, die Jackensäume abtasten, falls der Schlüssel durch ein Loch in der Tasche ins Innenfutter gerutscht ist, das Auto noch einmal komplett durchsuchen.
Nichts.
Vollkommen ratlos hocken wir uns in eine Ecke und beten. Aber auch dadurch fällt kein Schlüssel von der Stuckdecke, kommt uns keine Erleuchtung, wo wir noch suchen könnten.
Als gegen ein Uhr morgens die meisten Hochzeitsgäste aufbrechen, treten auch wir die Rückfahrt an. Vor der Haustür werden wir ein paar Stunden im Auto ausharren müssen, um dann Heike unser Missgeschick zu beichten. Eine Aussicht, die uns nicht gerade fröhlich stimmt.
Erst, als wir direkt vor Heikes Haus unser Auto abstellen, wissen wir schlagartig wieder, was wir nach dem Abschließen der Tür mit den Schlüsseln gemacht haben: Nichts.
Denn im Türschloss blinkt etwas Silbernes. Heikes Schlüsselbund. Sechzehn Stunden lang hat er dort gehangen, direkt am Bürgersteig. Ein Satz Schlüssel, der jedem x-beliebigen Passanten Zugang verschaffen konnte zu Hausflur, Keller und Heikes Wohnung.
Die Wohnung sieht nicht nur völlig unberührt aus, sie ist es auch.
Nein, Heikes Schlüssel sind uns zwar abhanden gekommen; sich eigenständig fortbewegen können sie aber nicht. Sie haben sich ja nicht einmal von einem Passanten fortbewegen lassen!
Und nein, Gott hat uns vorhin beim Beten keinen Schlüssel vor die Füße fallen lassen. Aber er hat an einer Haustüre mitten in Kempten auf einen dort stecken gelassenen Schlüsselbund aufgepasst. Damit dieser niemanden in Versuchung führen konnte.
Erleichtert fallen wir auf unsere Luftmatratzen. Ebenso erleichtert beichten wir am Morgen Heike, was passiert ist. Und gemeinsam sagen wir Gott Danke für alles, was nicht passiert ist.
Wovon träumen Jungen kurz vor ihrem achtzehnten Geburtstag?
Von einem kräftigeren Bartwuchs. Von hübschen Mädchen. Davon, einmal richtig viel Geld zu verdienen. Und vom Autofahren.
Am besten so wie James Bond auf seinen Einsätzen zur Rettung der Menschheit: Im coolen Aston Martin mit Tempo 200 und quietschenden Reifen durch enge Serpentinen, immer haarscharf am neben der Straße gähnenden Abgrund entlang, je nach Situation auf der Jagd nach oder auf der Flucht vor einem halben Dutzend wild um sich feuernder Gangster. Kurz bevor der Zuschauer beim Blick auf die nächste Haarnadelkurve zu gähnen beginnt, steuern letztere regelmäßig ihr Gefährt über die Straße hinaus.
Natürlich darf bei diesen Verfolgungsjagden nie das vollbusige Bond-Girl fehlen. Es räkelt sich auf dem Beifahrersitz und zeigt auch in der brenzligsten Lage nicht den geringsten Anflug von Panik. Sie kreischt nicht erschrocken auf, wenn ihr Held den Straßenverlauf querfeldein abkürzt. Wozu auch, der Mann an ihrer Seite kann schließlich Auto fahren! Natürlich weiß sie, dass für einen James Bond weder Geschwindigkeitsbeschränkungen noch rote Ampeln existieren. Es wäre also völlig überflüssig, ihn auf solche Banalitäten hinzuweisen.
So komplizierte Dinge wie Fliehkräfte oder Bremswege interessieren die junge Dame nicht. Als das in der Schule auf dem Lehrplan stand, hat sie nicht zugehört. Wahrscheinlich war sie damals gar nicht im Physikraum. Sondern auf der Toilette, um neue Wimperntusche aufzulegen.
Wenn der Held und das Mädchen schließlich an ihr Ziel gelangt sind, strahlt sein Hemdkragen immer noch in makellosem Weiß und sitzt ihre Frisur immer noch perfekt. Somit steht einem romantischen Abend nichts mehr im Wege. Kein finsterer Mafiaboss, und erst Recht kein kleinliches Gezänk über den Fahrstil.
Ja, so läuft das bei James Bond. Und so sollte es auch bei jedem beliebigen Teenager laufen, sobald er im Besitz einer Fahrerlaubnis ist.
Aber die Welt ist gemein, besonders zu männlichen Fahranfängern.
Statt eines Aston Martin steht ihm nur Mutters Kleinwagen zur Verfügung. Geht er diesen Kompromiss mit seinen Träumen ein und steuert das „Immerhinein-Auto“ auf die Straße, muss er feststellen, dass der Otto-Meier-Weg in Kleinkleckerlesdorf weder besonders steil noch besonders kurvenreich ist. Das einzige Hindernis, das ihm den Weg versperren will, ist ein Müllauto. Um das kann er nicht einmal gekonnt herumkurven, weil Gegenverkehr kommt.
Fast das einzige, was noch an den Filmhelden erinnern könnte, ist ein weibliches Wesen auf dem Beifahrersitz. Dieses trägt allerdings statt eines knappen Tops mit offenherzigem Dekolleté eine hochgeschlossene Bluse. Kein verführerisches Lächeln spielt um erotisch volle Lippen, sondern ein angstvoll zusammengepresster Mund stößt ein „Brems doch endlich, oder siehst du den Radfahrer dort hinten nicht?“ heraus.
Читать дальше