Die Fähigkeit, sich selbst zu reflektieren und eingeschliffene Verhaltensmuster zu hinterfragen. Zu überlegen, warum ein bestimmtes Verhalten des Partners mich derartig auf die Palme bringt. Oder, wenn der Partner gerade auf der Palme sitzt, eine Leiter holen, über die er wieder herunter steigen kann.
Gemeinsame Interessen und Ziele. Ähnliche Wertvorstellungen. Vertrauen und Treue. Und, und, und. Für das Durchhaltevermögen blieben am Ende höchstens fünf Prozent übrig.
Diese Überlegungen sind nun fast 25 Jahre, drei Examen, zwei Kinder, neun Umzüge, sieben Gemeinden mit fünfzehn Kirchen, acht Schulen und unzählige unerwartete Herausforderungen her. Die Schmetterlinge im Bauch leben immer noch; ihr leiser Flügelschlag wird allerdings oft übertönt von türenknallenden Söhnen und dauerklingelnden Mailboxen. Statt händchenhaltend Pläne für die nächsten zehn Jahre zu spinnen, entwerfen wir rasch beim Mittagessen den nächsten Festgottesdienst oder stellen zusammen, was am Nachmittag noch alles getan werden müsste, vorzugsweise vom Ehepartner.
Alltag eben.
Wie viel Durchhaltevermögen haben wir dabei gebraucht? In einigen wenigen Ausnahmefällen waren es sicher die von Schwiegerpapa angesetzten 95 Prozent. Da hat es sogar gut getan, sich bewusst zu machen, dass auch Durchhaltevermögen ab und zu ein Liebesbeweis sein kann.
In den letzten 25 Jahren wurde unsere Liebe auch vor eine ganze Menge Herausforderungen gestellt. Die größten davon sind wohl einige Großbuchstaben, die jeweils eine Krankheit bezeichnen: Ein M und ein S für mich, und das so genannte CRASH-Syndrom 1bei unseren Jungs, das verhindert, dass sie sich so entwickeln können wie die meisten anderen Kinder um uns herum.
Andere Herausforderungen haben wir selbst geschaffen, glücklicherweise waren das bisher wesentlich banalere. So seltsam es auf den ersten Blick klingen mag: Auch die Frage nach der Funktion eines Shampooflaschen-Verschlusses oder nach der Anzahl an Feldsteinen, die ein schmales Beet verträgt, können sich als Stolperfallen für ein harmonisches Familienleben erweisen.
Gott sei Dank im wahrsten Sinne des Wortes konnten wir bisher alle Herausforderungen einigermaßen meistern und die tückischsten Stolperfallen rechtzeitig erkennen und umgehen.
So hoffen wir weiterhin darauf, im Sommer 2041 bei unserer Goldhochzeit gemütlich im Kreise von zwei Söhnen und zahlreichen Freunden beisammen sitzen können. Dann werden wir viel Schönes noch einmal Revue passieren lassen, bei der Erinnerung an manche Begebenheiten herzhaft lachen, einige Schwierigkeiten im Nachhinein als nicht ganz so riesig einschätzen. Und im Rückblick dankbar sagen: Es war eine gute Zeit miteinander. Wir haben nicht nur durchgehalten, sondern unsere Liebe hat gehalten.
Und dann stimmen wir mit allen Gästen ein Loblied an für unseren wunderbaren Gott, der uns über sonnige Hügel begleitet und durch dunkle Täler getragen hat.
1Die Ursache des CRASH-Syndroms ist eine Veränderung des L1-Gens (L1CAM). Jeder Buchstabe des Syndroms steht für ein Symptom des Gendefektes: Corpus-callosum-Agenesie, mentale Retardierung, adduzierte Daumen, spastische Paraplegie und Hydrozephalus. Hinter diesen Fachbegriffen verbergen sich eine ungenügende Verbindung zwischen beiden Hirnhälften, eine verzögerte geistige Entwicklung, eingeschlagene Daumen, eine mehr oder weniger stark ausgeprägte Spastik und ein Wasserkopf.
Schlüssel-Erlebnisse
August 1992
Streng genommen ist die Mathematik keine Naturwissenschaft, sondern lediglich „Logik, bis zum Exzess getrieben“. Als Beispiel für diese These zitierte mein Mathematiklehrer gerne den von Aristoteles begründeten Syllogismus:
1. Prämisse: |
Alle Menschen sind sterblich. |
2. Prämisse: |
Sokrates ist ein Mensch. |
Schlussfolgerung: Sokrates ist sterblich.
Die Mathematik funktioniert nur mit Hilfe derartiger logischer Schlüsse. Man braucht sie schon für so simple Überlegungen wie:
1. Prämisse: |
Alle durch 2 und 3 teilbaren Zahlen sind auch durch 6 teilbar. |
2. Prämisse: |
36 ist durch 2 und 3 teilbar. |
Schlussfolgerung: 36 ist durch 6 teilbar.
Soweit, so logisch.
Ich würde gerne ein weiteres Beispiel hinzufügen:
1. Unbelebte Gegenstände können sich nicht eigenständig fortbewegen.
2. Schlüssel sind unbelebte Gegenstände.
Fazit: Schlüssel können sich nicht eigenständig fortbewegen.
Doch hier irrt die Mathematik, hier irrt die Logik, hier irrt Aristoteles. Irgendwo in diesem scheinbar glasklaren, irrtumsfreien Prinzip des Syllogismus muss es einen Denkfehler geben.
Denn Schlüssel können sich eigenständig fortbewegen.
Zumindest, wenn es sich um meine Wohnungsschlüssel handelt.
Martins Schlüssel laufen jedenfalls nie. Wenn er nach Hause kommt, legt er sie in die hölzerne Schale auf dem Telefontischchen. Dort bleiben sie unbewegt und brav liegen, bis Martin sie am nächsten Tag einsteckt, wenn er zur Uni geht.
Ich finde, Wohnungsschlüssel gehören nicht in Holzschalen auf Telefontischchen. Sie gehören in die Hosentasche. Denn was nützt das Wissen, wo mein Schlüssel liegt, wenn ich draußen vor der ins Schloss gefallenen Haustür stehe?
Deshalb lege ich meine Schlüssel auch nur selten in die von Martin dafür bereitgestellte Schale. Ich stecke sie einfach wieder zurück in die Hosentasche. Oder in die Jackentasche. Oder in den Rucksack. Oder ich lege sie kurz auf den Esstisch, solange ich meine Einkäufe in den Kühlschrank räume.
Aber eigentlich ist es völlig egal, wohin ich meine Schlüssel stecke. An drei von vier Tagen befinden sie sich am Morgen sowieso nicht mehr dort, wo ich sie deponiert habe. Weil sie eben durch die Wohnung spazieren.
Anders kann ich mir wirklich nicht erklären, wieso mein Griff regelmäßig ins Leere geht, wenn ich meine Schlüssel einstecken möchte. Ich bin mir hundertprozentig sicher, dass ich sie zurück in die Hosentasche gesteckt habe. Aber dort sind sie nicht mehr.
Wo sind sie dann? Das ist die Frage, die sich mir fast jeden Morgen stellt, etwa zwei Minuten, nachdem ich das Haus hätte verlassen müssen, um gemütlichen Schrittes zur S-Bahn zu gehen. Ohne Schlüssel komme ich nachmittags nicht in die Wohnung, also muss ich sie finden. Und zwar sofort, besser noch in minus zwei Minuten.
Welche Hose hatte ich gestern eigentlich an? Laut Martin die helle Jeans, die habe ich in die Wäsche gesteckt. Also durchwühle ich den Schmutzwäschekorb – vergeblich, die Taschen der hellen Jeans sind leer.
Welche Jacke hatte ich gestern an? Keine Ahnung, meine Kleidung ist mir nicht so wichtig, dass ich noch wüsste, was ich vor vierzehn Stunden getragen habe. Also muss ich an allen drei in Frage kommenden Jacken alle Taschen durchsuchen. Ich finde mehrere gebrauchte Papiertaschentücher und meinen schon seit einigen Tagen vermissten Einkaufswagenchip, aber keine Schlüssel.
Der Rucksack? Ist zwar nicht leer, aber schlüssellos.
Was habe ich gestern gemacht, als ich nach Hause gekommen bin? Ich habe eine Freundin angerufen. Habe ich dabei meine Schlüssel abgelegt? Also suche ich rund um das Telefontischchen. Auf dem Tischchen steht eine hölzerne Schale. In dieser liegt ein Schlüsselbund. Der von Martin.
Mein Herzallerliebster murmelt irgendetwas etwas von „wozu“, „Schale“ und „steht da“. Ich überhöre die Frage geflissentlich; ich habe keine Zeit, mich damit zu beschäftigen. Ich muss meine Schlüssel finden. Jetzt sofort. Besser noch in minus dreieinhalb Minuten.
Ratlos sehe ich mich in der Wohnung um. Der Küchentisch? Fehlanzeige. Das Bücherregal? Ebenso. Mein Nachttischchen? Drauf liegt nichts, aber davor: ein Schlüsselbund. Meiner!
Читать дальше