1 ...6 7 8 10 11 12 ...18 Und doch wusste er, dass er ihn schnappen wollte.
Er kehrte in sein Büro zurück und dachte an den Leichensack und das verräterische Durchhängen, an Mary Fulton, die so nervös an ihrer Halskette herumgespielt hatte.
Wobei das gestern natürlich kein Unfall war …
Ja, er musste ihn schnappen.
Er wollte dabei sein, wenn Patrick Jennings, oder wie auch immer er in Wirklichkeit hieß, zu einer möglichst langen Haftstrafe verurteilt wurde. Er wollte zuschauen und ihm zum Abschied winken, wenn der Mann, den er für den Tod von Philippa Goodwin verantwortlich machte, von der Anklagebank geführt wurde, um so lange wie möglich von der Bildfläche zu verschwinden.
Das war Thornes Vorstellung davon, jemanden zu ghosten.
Margate
In diesem Küstenort ist sie noch nie gewesen, und Michelles erster Gedanke ist, dass er trotz des Fischgeruchs ganz anders ist als die Orte, die sie als Kind kennengelernt hat. Eine schicke Kunstgalerie und ein herausgeputzter Vergnügungspark. Alle möglichen hippen Typen. Obwohl man nicht allzu lange suchen muss, um auch die schmuddeligen Spielhallen, die Burgerlokale und die mit billigen, geschmacklosen Souvenirs vollgestopften Läden zu finden. Oder die überfüllte Bar, die für weniger als einen Zehner große Gläser Sex On The Beach oder Porn Star Martini unters Volk bringt.
Während sie auf dem Bürgersteig raucht und zum Rhythmus der aus der Bar dringenden grässlichen Musik nickt, drängt sich der Junge durch die vor der Tür Wartenden ins Freie und zündet sich ebenfalls eine Zigarette an. Sie wechseln einen Blick, und er nimmt einen großen Schluck aus seiner Flasche Smirnoff Ice. Sie wirft ihre Kippe in den Rinnstein, wartet eine halbe Minute und geht rüber.
»Hast du noch eine für mich?«
»Sie haben gerade eine weggeworfen«, sagt der Junge. Er verlagert das Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Er dürfte um die siebzehn sein und sieht in seiner Jeansjacke und dem bis oben hin zugeknöpften Fred-Perry-Hemd ganz süß aus.
Nicht dass es darum ginge.
Michelle zuckt die Achseln und sagt: »Ja, stimmt.« Dann lächelt sie und sieht, wie es ihm langsam dämmert. Wie er merkt, dass es ihr nicht um die Zigarette geht, sondern dass sie bloß einen Anlass brauchte.
Eine glamouröse Frau, alt genug, um seine Mutter sein zu können.
Eine MILF …
Eine lebendige, atmende Frau, die ohne WhatsApp oder Selfiestick auskommt und wahrscheinlich ziemlich genau weiß, was sie im Schlafzimmer tut.
Die Röte, die ihm ins Gesicht steigt, als der Groschen fällt. Ein Schniefen und ein tiefer Zug an der Zigarette, um davon abzulenken. Ein kurzer Blick zur Seite und ein weiterer Schluck, als könne sich noch etwas Interessanteres ergeben.
»Bist du mit deinen Kumpels hier?«
Er nickt heftiger als nötig. »Ja. Freitagabend, Sie wissen schon.« Er hat ein nettes Lächeln, das muss man ihm lassen. »Und Sie?«
»Mädelsabend«, sagt sie. »Aber ziemlich langweilig.«
»Echt?«
Sie gähnt übertrieben. »Die reden über ihre Männer und Kinder und halten sich eine Stunde an einem einzigen Glas Wein fest.«
»Und Sie reden nicht über Ihren Mann?«
Michelle schaut den Jungen an, als wäre sie beeindruckt von seiner Frechheit, als hätte sie nicht längst gesehen, wie sein Blick über ihre linke Hand gehuscht ist. Sie sagt: »Na ja, er ist jedenfalls nicht hier, stimmt’s?«
Beide schauen auf, als ein aufgemotzter Wasauchimmer mit dröhnendem Motor an ihnen vorbeifährt. Aus den offenen Fenstern dringt ein ohrenbetäubender Bass, den unteren Rand des Chassis ziert ein Leuchtstreifen, als würde der Fahrer lässig die Strandpromenade in Miami oder Rio entlangfahren.
»Schauen Sie sich das Arschloch an«, sagt der Junge. »Was für ein –«
»Hast du Lust auf einen Spaziergang?«
Ihre Autos stehen in verschiedenen Bereichen des riesigen Parkplatzes, weshalb sie noch ein oder zwei Minuten vor dem Multiplex herumstehen. Sie knöpfen die Mäntel wegen der Kälte bis oben hin zu und suchen in den Taschen nach ihren Schlüsseln. Doch keiner von ihnen scheint es besonders eilig zu haben, nach Hause zu fahren.
Er fragt Sarah, wie sie den Film fand.
Es war ein ordentlicher Thriller, an ein oder zwei Stellen richtig gruselig, aber den Schluss fand sie absolut lächerlich, und das sagt sie auch. Er meint, so sei es meistens, das Ende sei immer schwierig. Völlig unvorhersehbare Wendungen und so. Trotzdem muss es ja nicht gleich so schwachsinnig sein, sagt sie, und er lacht, als stimme er ihr zu.
»Noch ein schneller Drink?«
Sarah weiß, dass es noch früh ist, schaut aber trotzdem auf ihre Uhr.
»Superschnell?«
»Nur einen«, sagt sie. »Mein Sohn …«
Er schlägt etwas ganz in der Nähe vor, in Sichtweite eigentlich, aber um zu Fuß dorthin zu gelangen, müssten sie die sechsspurige Southbury Road überqueren. Sie nehmen ihr Auto, weil es näher steht, und binnen fünf Minuten sitzen sie mit ihren Drinks am Ecktisch eines Restaurants mit Bar, in dem es gute und günstige thailändische Gerichte gibt.
Er hebt sein Pint-Glas, und sie stößt mit ihrer Flasche an.
»Da bekomme ich gleich Appetit«, sagt Sarah und deutet mit dem Kopf auf die Satéspieße und Spare Ribs am Nachbartisch. Eine Kellnerin kommt mit etwas Brutzelndem vorbei.
»Wir könnten was essen, wenn Sie wollen. Dauert bestimmt nicht lange.«
»Ich sagte ja schon …«
»Ja.« Er lehnt sich zurück. »Babysitter sind teuer, ich weiß.«
Sie schaut ihn an. »Dann haben Sie auch Kinder?«
»Nein.« Er klingt irgendwie erleichtert und hebt das Glas zum Mund. »Ich meine, sie sind doch teuer, oder?«
Sie nickt. »Ich zahle dem Mädchen acht Pfund pro Stunde. Und ein Uber nach Hause.«
»Himmel, für das Geld würde ich den Job auch machen.«
Sie betrachten die Gäste ringsum, bis ihre Blicke sich wieder begegnen. Schon bei der Ankunft im Kino hat sie bemerkt, dass er dieselbe Schiebermütze trägt, die sie schon im Café gesehen hat. Erfreut hat sie auch sein dichtes Haar registriert. Silbergrau, sehr kurz geschnitten, aber sicher nicht dünn. Er trägt eine Jeans, die vermutlich nicht billig war – vielleicht eine von diesen absurd teuren japanischen, von denen sie gelesen hat. Dazu ein langärmeliges Polohemd, das irgendwie … weich aussieht. Seine Schuhe gefallen ihr ebenfalls, glänzende braune Brogues.
Auch Sarah hat sich Mühe gegeben. Sie zieht sich gern schick an und weiß, dass sie gut darin ist, wenn sich die Gelegenheit ergibt. Dass sie das perfekte Outfit für jeden Anlass findet. Für die Leute, mit denen sie ihre Zeit verbringen will. Die passende Kleidung für den heutigen Abend auszuwählen war ein bisschen schwieriger gewesen als üblich, weil sie nicht sicher war, wie viel sie von sich selbst preisgeben wollte.
Sie ist sich auch jetzt noch nicht sicher.
Trotzdem ist es aufregend. Der Tanz. Das beiderseitige Vortasten.
»Dann wohnen Sie also auch in Enfield?« Sie sieht ihn an. Der Bezirk, in dem Brooklands Hill liegt, und das HazBeanz . Das Cineworld , das er bei seinem Anruf vorgeschlagen hat.
»Na ja, zu Hause bin ich eigentlich in den Midlands.«
»Oh.«
Er verzieht das Gesicht, als würde er ein schmutziges Geheimnis preisgeben. »Ich bin nur aus geschäftlichen Gründen hier und hatte neulich ein paar Meetings in Enfield, gleich um die Ecke von diesem Café.«
»Ach.«
»Ein Glück für mich, dass ich Lust auf einen Kaffee hatte.«
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